: Suche nach der verlorenen Mitte
Als Ausweg aus der Krise der EU fordern manche eine Neugründung im kleinen Kreis. Das französische Konzept eines „Kerneuropa“ hat derzeit bessere Aussichten denn je
Daniela Weingärtner berichtet seit 1999 für die taz aus Brüssel. Die Entwicklung der Europäischen Union in all ihre Facetten beobachtet und analysiert sie schon seit ihrer Zeit beim „Europamagazin“ des Südwestfunks vor 20 Jahren.
„Wir sind zu unserem Glück vereint.“ So steht es in der „Berliner Erklärung“, die am vergangenen Wochenende feierlich in der Bundeshauptstadt verabschiedet wurde. Der Satz klingt auf Deutsch etwas holprig; man könnte vermuten, dass er bei der Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen etwas gelitten hat. Doch so ist es nicht. Die „Berliner Erklärung“ wurde zunächst auf Deutsch verfasst. Sie ist das Ergebnis mühevoller Verhandlungen. Das merkt man der Sprache an. Sie klingt, als würde jemand mit diplomatischen Explosivkörpern jonglieren.
Doch nicht einmal in der Frage, wo der politische Sprengstoff stecken könnte, ist sich die europäische Familie einig. Einige haben sogar Probleme mit dem freundlichen Wörtchen „Glück“. Die Engländer ließen es beim Übersetzen gleich unter den Tisch fallen und texteten: „We have united for the better.“ Auch in der dänischen Version kommt das Wort „Glück“ nicht vor. Polen und Tschechen wiederum stoßen sich an einer Jahreszahl in der „Berliner Erklärung.“ Einen Tag nach der Jubelfeier erklärten sie, eine Reform der Union bis 2009, wie in dem Dokument angekündigt, sei unrealistisch.
In der EU geht es also zu wie in jeder normalen Großfamilie. Man feiert feuchtfröhlich, und gleich darauf geht der Krach wieder los. Familienzuwachs schafft neue Konflikte, auch das ist in der Politik nicht anders als im richtigen Leben. Seit knapp drei Monaten gehören Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union. Was hat sich dadurch verändert? Die Konferenztische werden noch größer, weitere Dolmetscherkabinen werden gebraucht. Ratspräsidentin Merkel muss zwei Länder mehr bereisen, wenn sie in Vieraugengesprächen die Chancen für einen Verfassungskompromiss sondieren will.
Am schwersten scheinen die Franzosen die Erweiterung nach Osten zu verdauen. Sie nehmen irritiert zur Kenntnis, dass sie mit jeder Erweiterungsrunde weiter an den Rand der EU abdriften. Wissenschaftler aus dem Nationalen Geografischen Institut (IGN) in Paris haben ermittelt, dass sich der geografische Mittelpunkt der Union am 1. Januar 2007 von Kleinmaischeid im Westerwald nach Meerholz in Hessen verlagert hat.
Die geografische Randlage passt zur derzeitigen politischen Befindlichkeit unserer Nachbarn. Am Tag, als die Franzosen mehrheitlich die EU-Verfassung ablehnten, wechselten sie aus der Rolle des Einigungsmotors in die sonst eher Großbritannien vorbehaltene Position des Bremsers. Seither muss sich Jacques Chirac bei Gipfeltreffen die Frage gefallen lassen, wie er den Schlamassel aus der Welt zu schaffen gedenke. Im Kreis der 27 Mitgliedsstaaten wurde er vom Führerhäuschen auf einen der hinteren Sitze verbannt.
Die EU-Neulinge setzen ganz ungeniert neue Schwerpunkte. Sie begreifen die EU als loses geostrategisches Bündnis mit enger Anbindung an die USA. Dabei wissen sie ein großes Mitgliedsland an ihrer Seite, das dem Club immerhin schon seit 1973 angehört: Großbritannien. Der amerikanische Raketenabwehrschild, den Polen und Tschechien ohne Rücksprache mit den europäischen Partnern auf ihrem Territorium stationieren wollen, ist nur ein Beispiel unter vielen. Es verfestigt den Eindruck, dass den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes ihre Einbindung in die Nato und ihre enge Anbindung an die USA weitaus wichtiger ist als ein engerer Zusammenschluss der Europäer.
Jacques Chirac hat vergangenes Wochenende in Berlin seine Abschiedsvorstellung gegeben. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin muss sich nun mit der Frage beschäftigen, wie Frankreich politisch vom Rand in die Mitte zurückfinden kann. Zwar haben Royal, Sarkozy und Bayrou sehr unterschiedliche Auswege aus der Verfassungskrise aufgezeigt, in einem zentralen Punkt aber sind sie sich einig: Nicht nur Frankreich muss ein neues Bekenntnis zur Europäischen Gemeinschaft abgeben. Auch Großbritannien und die neuen Mitgliedsstaaten müssen sich erklären.
Sarkozy denkt seit Jahren über ein „Kerneuropa“ nach, zu dem vor allem die sechs Gründerstaaten der EU gehören sollen. Andersherum gesagt: Großbritannien, die Nordländer und Osteuropa gehören eben nicht dazu. Wenn der konservative Präsidentschaftskandidat die Aufnahmeregeln für diesen neuen Club skizziert, klingt das recht exklusiv. Keineswegs wäre er, wie die „verstärkte Zusammenarbeit“, die der Verfassungsvertrag vorsah, für alle offen. Bayrou hat die Eurozone als Kerngemeinschaft im Sinn, einen immerhin doppelt so großen Club wie Sarkozys Kerneuropa. Er will die Tür für weitere Mitglieder offenhalten. Jeder, der sich auf die neuen Spielregeln verpflichtet, soll mitmachen dürfen.
Die sozialistische Kandidatin Ségolène Royal schließlich will die Verfassungsdebatte auf breitester Front neu eröffnen. Das Endergebnis soll den Völkern Europas zur Abstimmung vorgelegt werden. Wer Nein sagt, muss die Konsequenzen ziehen und die Europäische Union verlassen – ein Trick, der ihr in Frankreich eine große Mehrheit in jedem Referendum garantieren würde. Denn draußen stehen wollen die Franzosen ganz sicher nicht.
Alle drei Kandidaten haben sich also ein Verfahren ausgedacht, bei dem Frankreich geografisch und politisch wieder ins Zentrum der Union rückt. Die Frage, ob das Land nicht auch politisch im Abseits steht, bleibt dabei völlig offen. In der Energiepolitik zum Beispiel könnte sich die französische Regierung derzeit vielleicht mit Prag oder Warschau zusammentun, um ein paar neue Atomkraftwerke zu planen. Mit den übrigen Gründerstaaten verbindet sie in dieser Frage nicht viel. In der Sozialpolitik stehen die Franzosen ebenfalls ziemlich allein. Weder die nordische Sozialstaatsreform noch das neoliberale Modell in Großbritannien und Osteuropa oder die deutsche Agenda 2010 wäre dort mehrheitsfähig.
Dennoch hat das Kerneuropa-Konzept bessere Chancen denn je. Denn das Unbehagen an der konturlosen, unübersichtlich großen Gemeinschaft teilen alle Gründerstaaten und mehrere später hinzugekommene Länder wie Spanien oder Österreich. Sogar der ein oder andere Neuling wie Slowenien hat sich wohl vom Beitritt mehr Nähe und Gemeinschaft versprochen.
Eine Neugründung mit strengeren Beitrittsregeln würde dieses Problem lösen und zugleich die hohen Erwartungen vieler Nachbarländer befriedigen, in die EU aufgenommen zu werden. Privilegierte Partnerschaft und Mitgliedschaft in der erweiterten EU-27+ könnten in einer Vertragsform zusammengeführt werden, die sich auf die Grundfreiheiten im Binnenmarkt stützt. Das neue Kerneuropa könnte sich auf neuer Vertragsgrundlage außen- und innepolitisch enger zusammenschließen. Ob sich daran die sechs Gründungsstaaten oder die Länder der Eurowährung beteiligen werden, eines ist ganz sicher: Die neue geografische Mitte dieser Union wird das Nationale Geografische Institut in Paris sicher sofort berechnen lassen. Und: Sie wird in Frankreich liegen.
DANIELA WEINGÄRTNER