: Aus Scherben wächst die Zukunft
Max Herre kennt Brüche und Aufbrüche. „Les die Scherben von gestern auf / und merk, sie gehen nicht mehr zusammen“, heißt es in seinem Song „Scherben“. Beim Gipfelgespräch auf dem Monte Scherbelino ließ der Ex-Stuttgarter Rapper mit den 1,5 Millionen Kubikmetern Schutt aus dem Zweiten Weltkrieg unter den Füßen die Gedanken schweifen: von der Liebe in den Zeiten des Kapitalismus bis hin zum „Aufständle“ um den Stuttgarter Bahnhof
Der Rapper, Sänger und Songschreiber Max Herre wurde 1973 in Stuttgart geboren. Der Durchbruch gelang ihm und seiner Band Freundeskreis 1997 mit dem Lied „A-N-N-A“, das zu einer der großen Liebeshymnen der neunziger Jahre wurde. Mittlerweile lebt Max Herre in Berlin und hat eine Solokarriere gestartet, er ist mit der Soulsängerin Joy Denalane verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von zehn und acht Jahren
Interview von Susanne Stiefel und Rainer Nübel
?Max Herre, welche Bedeutung hat der Monte Scherbelino für Sie?
Ich kenne den Ort ganz gut, war schon oft hier. Als Kind zum Klettern, aber auch jetzt als Erwachsener mit meinen beiden Söhnen. Vor zwei Jahren im Sommer war ich zum letzten Mal hier mit ihnen. Es war mehr ein Ort zum Klettern und Auf-die-Stadt-Runtergucken und zu schauen, was man erkennt.
Die Trümmer als Ausflugsziel?
Eher ein Ausflugsziel und weniger ein Ort, der Geschichte, Zerstörung und Krieg vor Augen führt.
Hat Ihre Mutter, die den Ernst-Thälmann-Buchladen in der Hauptstätter Straße besaß, Sie mit der Geschichte des Birkenkopfs bekannt gemacht?
Nein, das war mein Vater, der in der Rosenbergstraße 42 geboren wurde und dort aufgewachsen ist. Die haben als Kinder wirklich in den zerbombten Häusern gespielt. Und da gab es schon mal ein Buch zu Hause mit Bildern der Stadt nach dem Krieg.
Wann wurde dieser Ausflugsort für Sie zum Symbol der Erinnerung und Zerstörung?
Daran erinnere ich mich nicht. Meine Politisierung hat 1990/91 begonnen, mit dem Jugoslawienkrieg. Dann der Golfkrieg. Das waren Themen, bei denen wir Schüler aktiv wurden, uns engagiert haben, durch die Schulen gezogen sind und Leute abgeholt haben.
Braucht die Gesellschaft heute noch diese Stein gewordene Erinnerung an Krieg und Zerstörung, an Gewalt und Tod?
Ja, und ich finde das gelungen, weil es nicht ein Künstler ist, der sich hingesetzt hat und überlegt und abstrahiert hat: Wie setze ich diese Idee von Zerstörung und Tod um? Sondern das ist, wie ja zu sehen ist, wirklich ein Monument der Zerstörung und des Bruchs. Deshalb hat diese Erinnerung etwas sehr Berührendes, etwas Lebendiges. Diese neoklassizistischen Gebäude stehen ja noch rum im Westen, und die haben genau diese Steine, Verzierungen an ihren Fassaden. Ich glaube, dass dies ein guter Ort ist, um so eine Erinnerung aufrechtzuerhalten.
Das Kreuz hier als christliches Symbol: Ist das zu plakativ oder passt es an diesen Ort?
Für mich hat es immer bisschen was Schweres, diese Kreuze, diese ganze Idee der Erbsünde, die damit verbunden ist, dieses gebückte Gehen. Ich bin niemand, der das Kreuz als Symbol braucht. Aber hier passt es.
Gibt es eine Stunde null, Neubeginn, Reset, alles zurück auf Anfang?
Na ja, wenn man, wie erst kürzlich aufgearbeitet, die Geschichte des Auswärtigen Amts nimmt, dann sieht man ja, dass es die Stunde null nicht gab, sondern viele Strukturen auch in der Justiz einfach weiter andauerten. Und dass es nicht von heute auf morgen eine neue Gesellschaft mit neuen Menschen gab. In der Generation meiner Eltern und in der davor gab es viele Leute, die sich vorgestellt hatten, dass es da mehr gibt an Symbolik. Eine neue Hymne zum Beispiel. Stunde null? Nein, Deutschland ist in einem ständigen Prozess. Und oft ist es so, dass gesellschaftliche Entwicklungen die Politik überholen, und dann muss die Politik nachziehen. Wir haben vor zehn Jahren noch diskutiert, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, dabei war es allen Staaten um uns rum schon klar, dass es natürlich eins ist.
Berlin hat auch so einen Monte Scherbelino.
Den Teufelsberg, der ist zugewachsen, da sieht man nichts mehr. Und weil es in Berlin kaum Hügel gibt, wird er zum Schlittenfahren benutzt.
Auch eine Symbolik.
Ja, ich finde die Umdeutung von Symbolen toll. Wenn Denkmäler nicht einfach daliegen und brachliegen. Ein schönes Denkmal in Berlin ist das Holocaustmahnmal. Das war eine Zeit lang mein Nachhauseweg. Ich habe mit den Kindern oft angehalten, weil die dort Verstecken spielen wollten. Dieser Ort lebt dadurch, dass ihm eine andere Bedeutung zugemessen wird von Menschen, die nicht belastet sind. Ich habe da ja keine Deutungshoheit, aber dass ein Ort, an dem der Toten gedacht wird, ganz lebendig ist und dort junge Leute sind, die das Leben vor sich haben, das ist, glaube ich, eine schöne Zusammenkunft.
Jahrzehntelang ging es um die Frage: Ist die Geschichte aufgearbeitet? Jetzt spricht man eher vom Mahnen und Erinnern. Sehen Sie darin eine sinnvolle Entwicklung?
Es geht auch darum, diese Schrecken, das Unglaubliche daran, vor Augen zu führen. Es ist unvorstellbar, mit welcher Systematik Menschen ermordet wurden. Ich glaube, dass es wichtig ist, das ab und an zu spüren. Und diese Ohnmacht. Und diese Fassungslosigkeit. Ich finde aber auch anderes wichtig: Einen Film wie „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni, in dem die Perspektive gewechselt wird, ohne dass es banal wird oder verfälscht. Einfach zu zeigen, dass es Menschen gab, die hoffnungsvoll waren bis zum Schluss. Das ist auch eine Art, wie man Geschichte erzählen kann und vielleicht einen Einstieg schafft, der es jungen Menschen auch leichter macht. Oder Helge Schneider, wenn er Hitler parodiert. Das hält die Auseinandersetzung mit Geschichte auch am Leben.
Lernt man aus Geschichte?
Weiß nicht. Manchmal hat man das Gefühl, dass wir in einer eher rückschrittlichen Zeit leben. Dass Errungenschaften über Bord geworfen werden. Da ist zum Beispiel der Fundamentalismus oder die extreme Religiosität, wenn man sich Palästina anguckt. Oder die 70er, 80er Jahre, als die Leute eigentlich relativ fortschrittlich waren und linke Idee hatten – wie sich so was in einem bestimmten Klima drehen kann und Leute ein rückschrittliches Denken annehmen. Dann kann ich nicht sagen, dass das immer ein Prozess ist, der nach vorne geht. Oder der Kreationismus in Amerika, es gibt Bundesstaaten, da ist Darwins Lehre ausgehebelt, der Mensch stammt nicht vom Affen ab, sondern alle Lebewesen stammen von Gott ab. Insofern geht der gesellschaftliche Prozess nicht immer nach vorne und baut nicht immer auf der Vergangenheit auf.
Sie schauen gerade von einer historischen Stätte in Stuttgart auf eine Stadt, von der Kommentatoren meinen, es passiere wieder etwas Historisches, in einer gewissen Art und Weise. Wir sprechen von S 21. Ist da die Relation gewahrt?
Das kann man nicht vergleichen. Aber ich komme gern nach Stuttgart, und auch mit einem gewissen Stolz. Als Stuttgarter in Berlin hat man es nicht so einfach, die Schwaben gelten als spießig und kleinbürgerlich, eigenbrötlerisch. Jeder gucke nur, was in seinem kleinen Garten passiert. Insofern ist es wichtig, dass es Bewegungen wie der Protest gegen Stuttgart 21 gibt, an denen man sieht, es gibt eine lebende, kraftvolle, mächtige Szene und auch Kultur des Widerstands. Wir kannten die Menschenkette schon, als sie in Zeiten der Friedensbewegung von Stuttgart nach Ulm ging. Aber in der Betrachtung von außen ist es eine Überraschung. Es wird dann jedoch gleich umgedichtet – vom Gutmenschen zum Wutmenschen. Da kriegt der Schwabe auch ein süßes Attribut: ach ja, macht der Schwabe mal ein Aufständle. Ich finde es nicht so. Ich finde, dass es toll ist zu sehen, wie engagiert viele Leute nach wie vor sind. Und es ist doch schön, wenn es mal ein Thema gibt, bei dem sich all die Splittergrüppchen doch wieder zusammenraufen und eine große Koalition an Menschen entsteht, die einfach so lange Krawall machen, bis sich etwas zu verändern scheint.
Hat sich der Blick von Berlin auf Stuttgart verändert? In der Hauptstadt sieht man mitunter das Plakat „Wir sind alle Schwaben“.
Es geht uns ja auch so. Ich rede mal als Stuttgarter. Die Leute oben auf der Halbhöhe sind nicht die im Kessel, um mal ganz im Klischee zu bleiben. Es ist anders, ob man in Feuerbach wohnt und bei Mahle, Bosch oder Porsche arbeitet oder irgendwie in Halbhöhenlage wohnt und Fabrikant für irgendwas ist. Das sind andere Leben und andere Geschichten. Grundsätzlich, was an S 21 interessant ist: dass Leute herabgestiegen kamen von der Halbhöhenlage, um sich einzureihen in die politischen Kreise. Das steht auch für Stuttgart: dass die Leute, die den Widerstand organisiert haben, bereits seit den 70er Jahren aktiv sind in Stuttgart.
Jetzt waren wir in der Vergangenheit, kamen zur Gegenwart. Lassen Sie uns nochmals in die Vergangenheit gehen. Welcher Song fällt Ihnen hier oben ein?
Welcher würde Ihnen einfallen?
„The Times They Are A-Changin’ “
In der aktuellen Ausgabe der Spex ist ein großer Artikel über das Ende des Protestliedes. Ich fand das einen komischen Artikel. Ein Song, den ich mit diesem Ort verbinde? Wen wir schon bei Bob Dylan sind: „Like a Rolling Stone“. (Lacht)
Sie haben selbst einen Song über Scherben gemacht. Der mit den Zeiten spielt, ein Blick in die Vergangenheit, die schön war, in der man die Zeichen nicht erkannt hat. Eine Gegenwart, in der die Zukunft hoffnungslos scheint. Und doch Hoffnung aufscheint. Scherben sind Trümmer – gibt es bei Ihnen denn auch positive Konnotationen?
Für mich waren die Scherben schon ein Bild. Aber nicht nur für Zerstörung, sondern auch für Trauer, diese Ohnmacht. Wenn etwas kaputt ist, ist es kaputt. Manchmal ist es nur ein Moment der Unachtsamkeit, dann isses schon passiert. Man kann aber auch schöne Sachen da drin sehen. Es kann manchmal nicht so schlecht sein, wenn etwas kaputtgeht, weil es einem den Blick auf Neues eröffnet. Das merkt man nicht immer gleich.
Ist Zukunft ohne Scherben denkbar? Ist ein Aufbruch nur denkbar, wenn es einen Bruch gibt?
Das weiß ich nicht. Es wäre schade, wenn es so wäre. Ich glaube, dass es viele Menschen hinbekommen. Und die Menschen, die am längsten gesund bleiben, sind wohl die, die eher durchs Leben fließen, als dass sie immer wieder gegen die Wand rennen. Aber es ist natürlich so, manchmal ist ein harter Aufprall ein Erwachen, und es lässt einem keine Wahl. Es ist ein Symbol für Veränderung, sofort. Und es ist unabdingbar, dass aus einem Bruch eine Veränderung resultiert.
Wie ist die Stimmung, die Sie wahrnehmen? Sie reisen als Künstler durch dieses Land, treffen viele Menschen. Stoßen Sie eher auf das Fließen oder auf das Brüchige?
Ich glaube, in Baden-Württemberg steht die große Schlacht noch aus. Es stehen sich zwei Lager gegenüber. Und auch der Volksentscheid wird den Konflikt nicht lösen. Es gibt einfach ganz viele Menschen, und ich würde sagen, die Mehrheit der Stuttgarter, die wollen S 21 nicht. Das heißt, dass sich der Konflikt verschärfen wird am Ende. Und da gibt es auch die Baumschützer in ihren Bäumen. Ich glaube, dass diese Auseinandersetzung ab einem Punkt auf die Straße kommt. Ich saß vor Kurzem, es lief die Montagsdemo, auf dem Wilhelmsplatz, da kam der Demozug zur SPD. Allein die SPD, keine Ahnung, was da passiert, aber es ist die größte Zerreißprobe für diese Partei. Weil es ein Richtungskampf ist. Die SPD macht sich als Partei überflüssig, wenn sie nicht mehr für ihre Leute einsteht. Und für das, was die Basis, die die Partei trägt, sich vorstellt.
Ist das etwas Stuttgartspezifisches, oder spürt man solche Entwicklungen und Strömungen auch in anderen Teilen der Republik? Steht S 21 exemplarisch für solch einen Aufbruch, für neue Scherben, neue Brüche?
Ich glaube schon, dass es eine Stimmung ist, die hier in Stuttgart an dieser konkreten Situation noch mal gewachsen ist, die aber eine grundsätzliche Stimmung widerspiegelt: Die Menschen wollen mehr mitreden, mehr mitbestimmen, sie haben keine Lust mehr auf eine Politik, die über ihre Köpfe hinweg passiert. Alle vier Jahre ihre Stimme abzugeben, das genügt ihnen nicht mehr.
Herr Herre, ist Kurt Schwitters eigentlich ein HipHopper?
Sie meinen wegen meinem Song „A-N-N-A“, der sich an Schwitters’ Gedicht „Anna Blume“ anlehnt? Dada ist jedenfalls die Urform des HipHop. Ich habe neulich eine Zeile getextet: Rap ist Philosophisches, sie geht zurück auf Aristoteles. Die Griechen kannten schon die Cyphers auf der Akropolis. Rap ist einfach nur das Gedicht des 21. Jahrhunderts. Oder überhaupt der Songtext. Insofern waren die Dadaisten natürlich Vorreiter. Sie haben die Sprache gebrochen, und das ist im Rap auch ganz wichtig. Den Dadaisten ging es um eine Lautsprache. Nicht nur, was man sagt, sondern, wie hört sich das an, ist wichtig. Insofern ist es eine musikalische Herangehensweise gewesen und damit eine Urform.
Damit sind wir wieder beim Bruch. In Schwitters’ Gedicht „Anna Blume“ wird etwas Traditionelles aufgebrochen, neu arrangiert. Ist die Welt so ver-rückt, wie Schwitters sie darstellt?
Die Welt ist ganz sicher verrückt. Komplett abstrakt zu werden, um das Abstrakte dieser Welt zu sehen, das war nie mein Ansatz, auch nicht als Texter. Ich glaube, es ist sehr realistisch, was ich versuche zu machen: eine Alltagssprache zu etablieren, Sachen zu benennen und zu erzählen. Manchmal greife ich zur Metaphorik, weil ich die Leute nicht in meinem Wohnzimmer sitzen haben will. Aber sonst ist Rap immer direkt und nicht gebrochen. Während Dada ja komplett zerpflügt und neu zusammensetzt.
Was ist ist der Kitt, der die Scherben zusammenfügt? Was ist das Verbindende, woraus etwas Neues entstehen kann?
Die Idee, dass man Teil von etwas ist – einer Gesellschaft, eines Prozesses. Dass man bei allem, was man persönlich verarbeitet, auch den Blick sucht auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Dass ich bei Konzerten und auf CDs diese Plattform nutze, um nicht nur die eigene Geschichte zu erzählen, sondern so zu texten und zu gestalten, dass meine Songs eine Projektionsfläche sind für Leute, die sie sich anhören.
In der Neufassung des Anna-Songs spielen Sie mit den Zeiten. Sie greifen ein Thema von früher auf, eine Liebe, einen Erfolg, einen Song und schauen in die Zukunft. Beschäftigen Sie Zeitsprünge in Ihrem eigenen Leben?
Sicher tut es das, natürlich. Und gleichzeitig ist es auch ein künstlerischer Aspekt. Ich bin wahnsinnig beeinflusst von der Musik der frühen 70er Jahre. Man geht wohl in die Zeit, in die man hineingeboren wurde, immer wieder zurück. Dinge entwickeln sich ja in Zyklen. Als für mich Mitte der 90er Jahre Rap anfing wichtig zu werden, da waren in Stuttgart Soul und die Musik der 70er Jahre ein Riesenthema. Die Platten, die ich damals gekauft habe, um daraus neue Musik zu machen, sind alle um mein Geburtsjahr 1973 entstanden. Stevie Wonder, Curtis Mayfield, James Taylor. Musik ist eine Form der Zeitlosigkeit.
Sie haben von Zyklen gesprochen. Wird heute vielleicht einfach zu wenig zyklisch gedacht?
Der Postmoderne wird immer vorgeworfen, es gebe nichts Neues mehr, alles sei gemacht und nur noch eine Frage, wie man die Dinge zusammensetze. Ich finde das gar kein Problem. Bob Dylan hat mal gesagt, er brauche gar kein neues Brett, es genüge ihm, wenn er noch einen Platz finde für seinen Nagel auf dem Brett, wo die anderen auch schon ihren Nagel hätten. Das würde ich auch gelten lassen. Es geht nicht darum, alles neu zu erfinden, sondern einen Platz zu haben zwischen all den Leuten, die ich toll fand.
Aber in der Gesellschaft geht es immer um das Mehr. Bei der Finanzmarktkrise hat man gemerkt, dass dieses lineare Denken endlich ist. Denken Sie eher zyklisch?
Was ich mache und was ich denke, das geht da ein bisschen auseinander, wie bei den meisten Menschen. Ich würde jetzt gern eine ganz tolle Antwort geben und mit leuchtendem Beispiel voranmarschieren. Ich glaube, dass alles, was wir erleben an Auseinandersetzungen, politisch und gesellschaftlich, letztlich auf denselben Mechanismen beruht. Viele Menschen trauen sich nicht mehr, sich die ganz große Frage zu stellen, die gesellschaftliche Frage: Ist das das richtige System? Kann man den Kapitalismus zügeln, kann man ihn so gestalten, dass soziale Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit daraus resultieren? Philosophisch könnte ich sagen, ich glaube nicht, dass das funktioniert. Doch leben tu ich etwas anderes: Ich nehme eine Platte auf und freue mich, wenn die sich gut verkauft. Aber es wäre interessant, Menschen zu treffen, die sich trauen, das alles infrage zu stellen, ohne dass sie als gestrig gelten. Oder als Geisterfahrer. Oder als Weltverschwörer.
Für einen Rapper ist ja das Wort wichtig. Wir haben über Schwitters geredet. Sie haben auf Ihrer Homepage einen Buchtipp. Was bedeutet Literatur für Sie?
Wenn wir es schon von Brüchen haben, das ist einer. Meine Mutter war Buchhändlerin, doch ich habe, bis ich 16, 17 war, kein Buch angerührt. Das hat mich nicht interessiert. Dann hat mir meine Mutter zum Sommerurlaub in der Bretagne den „Fänger im Roggen“ geschenkt, und das habe ich fünf-, sechsmal gelesen. Das war mein Einstieg. Ich kannte kein anderes Buch, aber ich dachte, das ist das beste Buch der Welt. Diese Sprache! Ich hab meine Briefe dann auch immer mit „und so“ enden lassen. Dieser jugendliche Existenzialismus, alles so direkt zu spüren, und alles ist so bedrohlich, auch für die Seele, das hat mich beeindruckt. Dann hab ich Charles Bukowski gelesen, die Saufgelage und das Pornografische, das war spannend, weil es schockierte. Ich lese nicht wahnsinnig viel, aber ich lese immer irgendwas.
Wer „A-N-N-A“ geschrieben hat, muss auf diese Frage vorbereitet sein: Was ist für Sie Liebe?
Das, was es für alle ist: die Idee von Gemeinsamkeit, um diese Einsamkeit zu überwinden. Erich Fromm hat ja dieses Trauma der Geburt, dieser Trennung von einem geliebten Menschen, der Mutter, beschrieben. Diese Suche nach Zweisamkeit ist letztlich die Suche nach diesem Urzustand der Geborgenheit. Dieses Gefühl, dass man nicht allein auf dieser Welt ist, sondern dass man teilt die Sachen, die schön sind, die Sachen, die schwierig sind. Und ich denke, dass meine Vorstellungen von Liebe auch eine familiäre ist.
Hat diese zuversichtliche Vorstellung von Liebe Sie nach einer Trennungsphase mit Ihrer Frau wieder zusammengebracht?
Da war zunächst wenig Zuversicht, da schreibt man dann Songtexte, die man sich selbst gern sagen hören würde. Oder gesagt bekommen würde. Die Frage ist, ob man das, was man schreibt, in diesem Moment schon leben kann. Doch da ist immer auch ein Funken Hoffnung, dass man in einen Zustand kommt, in dem man das Gefühl hat, die Dinge sind wieder an ihrem Platz. Man selbst hat wieder so eine Laufruhe, eine Ruhe im Leben, das Gefühl, hier gehöre ich hin, und hier fühlt es sich gut an. Aber die Gewissheit hat man leider nicht. Diese Weitsicht, die reicht nicht mal ein paar Tage, das ist alles immer Jetzt und Hier.