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Archiv-Artikel

Shopping mit fränkischer Anmutung

Das Wertheim Village an der Autobahnausfahrt gilt als eine neue, attraktive Anlaufstelle. Auf die Idee, dort mal reinzuschauen, bevor man an Main oder Tauber den Bocksbeutel schlabbert, kommen inzwischen viele Touristen. Der amerikanische Investor Value Retail bietet Einkaufswelten im Lokalkolorit

Wer gezielt sucht, wird sich hier schwertun. Das Objekt der Begierde ist nie auf dem neuesten Stand

VON CHRISTEL BURGHOFF

Am Wertheim Village kommt man nicht vorbei. Das wundersame Bau-Ensemble oberhalb der A 3 Frankfurt–Würzburg ist ein Blickfang. Mittelalterliche Türme und stattliche Mauern, Giebel und Erker, Fähnchen und Fachwerk, und das alles in pastelliger Zuckerbäckerarchitektur. Man traut seinen Augen kaum.

Und wenn man dann die Autobahnabfahrt nimmt, die am obligatorischen McDonald’s vorbei direkt auf den Almosenberg zur märchenhaft mittelalterlichen Bauschöpfung führt, dann deutet nur der bekannte rote Nike-Haken am Gemäuer aufs Innerste hin. Hier wurde ein Factory-Outlet-Center, ein FOC hingesetzt. Nix alte Kultur, sondern modernes Shopping. Und ganz ohne Fabrik weit und breit. Das Wertheim Village ist ein Konsumdorf mit fränkisch-kultureller Anmutung.

Vorneweg sollte man sagen: Außer Nike wirbt hier erst einmal niemand. Keine kreischbunte Werbetafel prangt auf den Mauern, die das Village umgeben, nirgends aufdringliche Reklame. Weder Lautsprecher, die Schnäppchenpreise plärren, noch dröhnender Beat, der aus den Gemäuern herausschallt. Wir beschreiten ein gepflegtes Ambiente, farbenfrohe, mittelalterliche Häuschen säumen blitzsaubere, gepflasterte Wege. Hier reiht sich Boutique an Boutique. Hier darf, hier soll flaniert werden. Hinter dem Torbogen warten etliche der populären unter den Modelabels. Von Renee Lezard bis zu Versace, von Mandarina Duck bis hin zum Body Shop. Seidensticker, Wolford, Geox, Dockers, Puma, Fossil – rund 60 Namen sind vertreten, Jette Joop will noch kommen, und noch weitere werden folgen, das Village wird gerade zum zweiten Mal vergrößert, am unteren Ende sind die Bauarbeiten zugange.

Die mittelalterliche Stadt wächst weiter. Der einzige örtliche Produzent eines bekannten Markenartikels, Alfi-Thermoskannen, hat im Village keinen Shop. Er präsentiert sich in der Touristeninformation. Der amerikanische Investor Value Retail hat sich etwas Besonderes ausgedacht, um auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen. Er betreibt weltweit noch acht weitere FOCs. Inzwischen wurde Ingolstadt Village eröffnet. Das nächste Village wird jetzt in Bispingen in der Lüneburger Heide gebaut. Diese Einkaufswelten sind zweifellos Geschmackssache. Sie waren nicht unumstritten. Das erste FOC an der Autobahn bei Wertheim hätte auch eine Investitionsruine werden können. Outlets gibt es mittlerweile zuhauf. Andererseits wurde in der Region auch der Erfolg des Konzepts gefürchtet. Und zwar als Konkurrenz der regionalen Einzelhandelsstruktur. Befürchtet wurde auch eine Verarmung der kleinstädtischen Infrastrukturen.

Der „Smart Shopper“ (Professor Jürgen Schmude, Universität Regensburg) könnte abwandern, wegtauchen im neuartigen Freizeit-Erlebniskonsum. Damit sind die heiß umworbenen Fans von Markenklamotten gemeint. Flanieren, Kaffee trinken, hier und da mal reinschauen, Klamotten probieren, den Umsatz anderer Leute steigern. So kann man den Tag auch verbringen. Von Outlets weiß man: Es ist mindestens Vorjahresware (wenn nicht noch älter), es sind die eher nicht begehrten Modelle (Restposten). Aber die Preise sind erfreulich.

Versierte Großstädter, die auf der Schnäppchenjagd vom gnadenlosen Preiskampf in den Innenstädten gemeinhin gut profitieren, dürften nicht unbedingt hin und weg vom Angebot sein. Wer gezielt sucht, wird sich hier schwertun. Das Objekt der Begierde ist nie auf dem neuesten Stand. Die ultimativen Puma-Treter hat man andernorts schon in größerer Auswahl gesehen. Und vielleicht noch preiswerter.

So richtig viel los ist im Village nicht. Nur wenige Menschen sind mit Tüten unterwegs. Zugegeben: Es ist ein Donnerstag, an dem es uns hierher verschlagen hat. Ein ganz normaler Werktag. Einen guten Umsatz macht gegen Mittag ein Wertheimer Metzger an seinem Imbissstand. Mit schlicht belegten Brötchen, mal mit Wurst, mal mit Bratenfleisch, mal mit Fleischkäse.

Die fränkische Anmutung des Konsumdorfs hat uns irgendwie im Griff. An der Baustelle zur Dorferweiterung tragen Dachdecker Schindeln nach oben und befestigen sie sorgfältig. Wir schauen zu wie auch etliche andere Besucher. Immer wird man neugierig, wenn richtig mit der Hand gearbeitet wird. Was rundum wie Kulisse aus Pappmaschee wirkt, ist in Wahrheit gemauert und gut verarbeitet. Und wirkt außerdem sehr mediterran dank Farbgebung und ornamentaler Kunst am Bau. Ein südländisches Franken. Irgendwo muss in dieser Gegend immer die Sonne scheinen. Wo sind wir eigentlich? Wer sind wir wirklich? Sind wir Käufer? Oder sind wir Touristen? Gemischte Gefühle sind das Ergebnis unseres Besuchs im Wertheim Village.

„ ‚Tourismusshopping‘ – das sagen wir dazu ganz bewusst“, wird dann bei einem Treffen Jürgen Strahlheim, der städtische Wirtschaftsförderer von Wertheim, sagen. „Das Wertheim Village dient nicht unserer Bedarfsdeckung. Es ist eigentlich unser Freizeitpark.“ Elf Kilometer weiter: Wertheim am Main. Das Original. Roter Sandstein und Pastelltöne, Fachwerk, Erker und Schnitzereien, ein altfränkischer Stadtkern mit einem echten Marktplatz in der Mitte und Weinbergen rundum und echter Burg auf der Höhe.

Bocksbeutelland. Hier ist alles nicht ganz so neu, die Wege sind nicht ganz so breit, die Farben nicht ganz so zuckrig und nirgends eine gerade Linie. In Wertheim mündet die Tauber in den Main, dieses idyllische Flüsschen, an dem entlang der Radwegklassiker (100 Kilometer) nach Rothenburg ob der Tauber führt. Diese Region ist Inbegriff deutscher Romantik, und Rothenburg ist die ultimative Touristenhochburg, die schon etliche Touristengenerationen erlebte, allen voran US-Amerikaner und Japaner und neuerdings immer mehr Koreaner. Eine Idylle schlechthin.

Der „Smart Shopper“ könnte abwandern, wegtauchen im neuartigen Freizeit-Erlebniskonsum

„Damals war das alles Neuland für uns“, sagt in der Stadtverwaltung Jürgen Strahlheim und betont, dass alle politischen Fraktionen die Entscheidung für das Investorenkonzept einstimmig mitgetragen hätten. In Wertheim war man offen für das außergewöhnliche Konzept von Value Retail. Auch für das „fränkische Design“, wie man es hier nennt. „Wir liegen mit dem Wertheim Village ja nicht im denkmalgeschützten Bereich“, sagt Jürgen Strahlheim.

Aber man liegt damit auf einer speziellen, vielversprechenden Route. Vor allem wegen der Touristen. Das Wertheim Village an der Autobahnausfahrt gilt als eine neue, attraktive Anlaufstelle für Rundfahrten. Auf die Idee, dort mal reinzuschauen, bevor man an Main oder Tauber den Bocksbeutel schlabbert, kommen inzwischen viele Touristen. Und Busunternehmer. Inzwischen besuchten fast 18 Prozent der Village-Besucher auch Wertheim selbst, berichtet Kathleen Kuchling, die Geschäftsführerin der Wertheimer Fremdenverkehrsgesellschaft. Tendenz: weiter steigend. „Unser Ziel ist es, den Tagestourismus zum Mehrtagestourismus auszubauen“, so die Touristikerin. Und dafür sei die Touristeninformation im Wertheim Village der denkbar beste Werbestandort, strahlt Strahlheim. „Mietkostenfrei“. „Das ist unser Dauermessestand, diesen Werbeeffekt könnten wir als Stadt niemals bezahlen.“

Kein kritisches Argument, das der Wirtschaftsförderer nicht kennt. Ob ökologisch, wirtschaftlich oder sozial. Immerhin wäre nur ein Viertel der 500 Arbeitsplätze im Village schlichte 400-Euro-Jobs. Ein Buspendelverkehr zwischen der Stadt und dem Village wurde eingerichtet. Und in der Stadt Wertheim selbst hätte es keine ungewöhnlichen infrastrukturellen Veränderungen gegeben. „Das Konzept geht auf jeden Fall auf“, so resümiert Kathleen Kuchling. Und vor allem jetzt. Denn inzwischen hat sich neben dem fränkischen Village auf dem Almosenberg die Firma Hymer-Wohnmobile mit einer riesigen Ausstellungshalle und einem Caravan-Verkaufszentrum niedergelassen. „Der betagte Herr Hymer wollte nur neben einem Freizeitpark ansiedeln, und da konnten wir ihm sagen: Den haben wir mir mit dem Wertheim Village.“ Jürgen Strahlheim spricht vom „Synergieeffekt“ und lächelt. Lächelt, als wäre ihm der Coup des Jahrhunderts geglückt. Und dann spielt er noch einen Trumpf aus, der den viel beschworenen Synergieeffekt auf neue Höhen schrauben könnte: die künftigen „Creativ Welten Wertheim“. Was heißen soll: ein weiteres in Planung befindliches Zentrum neben dem Wertheim Village für Gastronomie, Kongresse, Hotellerie. Das wird architektonisch mindestens so abgefahren daherkommen wie das Wertheim Village selbst. Jürgen Strahlheim ganz entspannt: „Mit dem Vorwurf ‚fränkisches Disneyland‘ können wir prima leben.“

In Wertheim scheint die Sonne. Fern auf der Autobahn quält sich der Verkehr über die chronisch überlastete Strecke Frankfurt–Würzburg. Man glaubt zu wissen, dass Jürgen Strahlheim denkt: Am Wertheim Village kommt keiner so schnell vorbei.