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Archiv-Artikel

„Gieß Ahornsirup drüber!“

Amerika, hast du es wirklich besser? Zwei große Fotoausstellungen zeigen die arme amerikanische Landbevölkerung vor und nach dem New Deal in Farbe: „Bound for Glory“ in Frankfurt und „Jacob Holdt, Amerikabilder 1970–75“ in Essen

VON URSULA WÖLL

Der Fotograf Walker Evans zeigte die Armut der Familie eines Kleinfarmers in Alabama ungeschminkt. Ihre abgetragenen Arbeitskleider und ihre nackten Füße sagten alles. 1936 entstand auch Dorothea Langes berühmtes Foto „Migrant Mother“. Die verhärmten Züge der 32-jährigen Wanderarbeiterin in einem kalifornischen Zeltlager sprechen vom Hunger. Obwohl sie als Erbsenpflückerin arbeitet, bekommt sie sich und ihre drei Kinder nicht satt. In John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ pflückt gleich die ganze Familie Pfirsiche und sinkt doch trotz übermenschlicher Anstrengungen immer tiefer, seitdem sie die eigene Kleinfarm aufgeben musste. Die Jahre der Großen Depression nach dem Crash von 1929 blieben trotz der sozialen Hilfsprogramme des New Deal unter Präsident Franklin Delano Roosevelt Jahre bitterer Armut – für die kleinen Leute.

Walker Evans und Dorothea Lange arbeiteten etwa ein Jahr lang für das Fotoprojekt der staatlichen Farm Security Administration (FSA) in Washington. So lange waren drastische Elendsbilder von Farmensterben und Wanderarbeit erwünscht, damit der Kongress Gelder für die ländlichen Programme des New Deal bewilligte. Von 1935 bis 1943 ließ Projektleiter Roy Emerson Stryker zwölf Fotografen ausschwärmen, die auf 160.000 Schwarz-Weiß-Fotos das Arbeiten, Leben und Wohnen auf dem Land dokumentierten. Die Aufnahmen sind in der Library of Congress archiviert und Teil der amerikanischen Identität geworden. Erst 1975 entdeckte man, dass auch 1.600 Farbfotos aus der Zeit von 1939 bis 1943 zu dem Projekt gehören. Gut 50 dieser sensationellen Farbaufnahmen sind jetzt als Großformate im Frankfurter Fotografie Forum International ausgestellt.

Sobald Kodak die Farbtechnik als Rollfilm anbot, ließ der aufgeschlossene Stryker einige Fotografen damit experimentieren. Unter ihnen waren Marion Post Wolcott, Jack Delano und Lee Russell, der 1940 Pfirsichpflücker bei der Arbeit aufnahm, wie sie Steinbeck ein Jahr zuvor beschrieben hatte. Doch Russells Aufnahmen wirken eher harmlos, fast idyllisch. Auch die Kinder des Schulchors in Pie Town sind frisch gekämmt und herausgeputzt. Spätestens ab 1939 waren offensichtlich optimistischere Bilder erwünscht, um die Ausgaben der Steuergelder als sinnvoll zu dokumentieren. „Emphasize the ideas of abundance – the ‚horn of plenty‘ and pour maple syrup over it“, empfahl 1940 der hemdsärmelige Stryker einem Fotografen. Die administrativen Maßnahmen brachten auch Besserungen, das belegt etwa das schöne Foto von John Vachon, auf dem der alte Landarzt Dr. Schreiber in einer Schule im texanischen County San Augustine gegen Typhus impft. Erst der Kriegseintritt gegen Hitler beseitigte jedoch die Arbeitslosigkeit völlig und leider auch viele der New-Deal-Reformen. Die FSA wurde in Office of War Information (OWI) umbenannt, und die politischen Intentionen des Fotoprojekts änderten sich erneut. Es sollte die Nation kriegsbereit machen. Farbfotos junger, sorgfältig zurechtgemachter Frauen bei der Bombermontage waren dafür geeignet. Ihre Motive fanden die Fotografen nun in den Städten.

Verantwortlich für die optimistische Stimmung der Farbfotos war also nicht die Farbe selbst, sondern der auswählende und arrangierende Fotograf. Das belegt eine weitere Fotoausstellung im Folkwang-Museum in Essen, deren Thema ebenfalls das arme Amerika ist, wenngleich rund 30 Jahre nach dem FSA-Projekt. Obwohl die „Amerikabilder 1970–75“ – 50 großformatige Abzüge und 150 Diaprojektionen – ebenfalls farbig sind, schockieren sie durch ihren ungeschönten Blick auf das gesellschaftliche Elend. Der Däne Jacob Holdt brachte sie von seiner fünfjährigen Tramptour nach Hause mit und erhielt sofort die gewünschte Öffentlichkeit in Form eines Spiegel-Artikels und eines Buches im Fischer Verlag. Seitdem nutzt er die Bilder zur Agitation gegen Armut und Rassismus in den USA und auch hier in Europa.

Durch teilnehmende Beobachtung kam Holdt den abgebildeten Menschen sehr nahe, näher wohl als die amerikanischen Mittelschichttheoretiker sich jemals in dieses gefährliche Terrain der Ghettos vorgewagt haben. Der 1947 geborene Däne fotografierte meist arme Afroamerikaner, auch als Diebe, Prostituierte und Gefangene. Dieser Teil der Bevölkerung kam im FSA-Fotoprojekt kaum vor, 1940 herrschte noch strikte Segregation. Neben Hoffnungslosigkeit, Drogenkonsum, Tod und Gewalt zeigt Holdt aber auch den liebevollen Zusammenhalt der Menschen, wenn sich etwa der eingesperrte Schwarze und seine Besucherin durch die Gitter küssen. Nun, 30 Jahre nach dem FSA-Projekt mit seinen emsigen Protagonisten, wird auf den Fotos nicht mehr gearbeitet und an eine bessere Zukunft geglaubt. Ausnahme ist ein Kind, das Zeitungen verkauft. Wie gelähmt scheinen Schwarze und Weiße bei all ihrer Sucht nach Zerstreuung. Man fühlte sich an die Gemälde Edward Hoppers erinnert, wären da nicht auch Demonstrationen für oder gegen den Vietnamkrieg und die nächtlichen Ku-Klux-Klan-Rituale fetter weißer Männer.

Nicht nur die FSA-Fotografen inszenierten behutsam ihre Dokumentaraufnahmen, auch Jacob Holdt leuchtete gekonnt nächtliche Szenen aus. Das ist legitim und reiht die Exponate beider Ausstellungen über ihre zeitgeschichtliche Zeugenschaft hinaus in den Kanon auch der Fotokunst ein.

Bis 13. Mai „Bound for Glory“. Katalog (Verlag Harry N. Adams) 30 €; bis 3. Juni „Jacob Holdt, Amerikabilder 1970–75“. Katalog (Steidl-Verlag) 30 €