piwik no script img

Archiv-Artikel

Wie ein Peitschenhieb

BÜHNE Das Dresdner Staatsschauspiel startet die Saison mit einer Sprechtheaterfassung von Aldous Huxleys „Schöner neuer Welt“

Seit über 80 Jahren ist der Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ das Buch der Stunde – heute, da jedes Handy über Nacht von seinem Update überholt wird, klingt das wie ein Märchen. Dass der Klassiker noch immer so aktuell wirkt, ist der Beweis für die Richtigkeit seiner Grundthese: Nicht alles, was alt ist, ist auch überholt. Huxleys Visionen sind heute zum Greifen nah: Eizellen werden künstlich befruchtet, bis zu 96-mal geklont, die Babys für einen Beruf konditioniert; Ehe und Familie sind abgeschafft, jeder schläft mit jedem; die Welt wird über ein zentrales Controlling regiert; Genusssucht hält das Wirtschaftssystem stabil; eine Volksdroge übertüncht die Depression; mit 60 wird jeder Mensch entsorgt, seine Organe werden recycelt.

Der Wilde als Erzähler

Eine Satire, natürlich, in der weniger die wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit zählt als das Ethos dahinter, die Frage: Sind Glück, Wohlstand und Stabilität wichtiger als der freie Wille des Einzelnen, als Wahrheit und Schönheit? Da hat es der Schweizer Regisseur Roger Vontobel gar nicht nötig, Huxleys Welt „ins Heute“ zu transferieren. Und der Dramaturg Robert Koall, der im Auftrag der Huxley-Erben diese allererste Sprechtheaterfassung des Romans erstellte, vermeidet alle Anspielungen auf die digitale Gesellschaft, die ihre Freiheit aus Bequemlichkeit abgibt.

Koall hat den Roman so geschickt dramatisiert, dass man dem Stück einen Erfolg auf den Bühnen voraussagen kann. Der Text beginnt erst da, wenn das Gleichgewicht der genormten Gesellschaft durch John, „den Wilden“, und seine Mutter Linda bedroht wird, die der Außenseiter Bernhard in einem Reservat der „alten Welt“ aufgabelt. Koall macht John zum Erzähler des Abends – André Kaczmarczyk spielt ihn leidenschaftlich kompromisslos.

Für die alte Welt, in der noch Religion, Kunst und freie Wissenschaft zählen, hat die Bühnenbildnerin Claudia Rohner ein Gerüst aufgestellt, über dem weltkugelrund die sich beinah berührenden Zeigefinger von Gott und Adam aus Michelangelos berühmtem Fresko leuchten. Multimedial wird es dann, wenn „die Wilden“ das neue London kennenlernen. Auf der hohen Front eines Wolkenkratzers – wohl die „Brut- und Normzentrale“ – spielt der Regisseur mit Klonen-Projektionen, die sich vor diesem Turm bewegen. Die Bilder fließen psychedelisch ineinander oder teilen sich, wenn aus einer Eizelle 96 Menschen werden.

Bis zur Pause des knapp dreistündigen Abends setzt Vontobel kaum Höhepunkte, fächert die Welt „im Jahr 632 nach Ford“ breit auf – etwas pointierter hätten diese Szenen schon ausfallen können, schließlich ist auch Huxleys Vorlage mit Ironie gespickt. Witziger, rasanter wird es im zweiten Teil, wenn John gegen die neue, aseptisch-gedächtnislose Menschheit aufbegehrt. Er setzt ihr die Werte entgegen, die er im Reservat bei intensiver Shakespeare-Lektüre aufgesogen hat – jetzt, in der neuen Rechtsordnung, stehen die Werke des Klassikers im Giftschrank. Wie sich John nun auf Enthaltsamkeit, Treue und Ehre beruft und sich so gegen die Verführungskünste der schönen Lenina zu wehren versucht, ist nicht nur komisch, hier prallen Glaubenssätze aufeinander. Dann lässt Vontobel mit gewaltiger Inbrunst eine komplette Szene aus „Romeo und Julia“ rezitieren.

Das große Finale kündigt sich an, wenn Christian Erdmann als herrlich zynischer „Weltcontroller“ John vor Augen führt, welche Opfer für den freien Willen aufzubringen sind: „Sie fordern das Recht, unglücklich zu sein. Und also auch das Recht auf Alter, Hässlichkeit, Impotenz und Krebs, das Recht, zu wenig zu essen zu haben, auf Zukunftsangst, auf Ebola und auf unaussprechliche Schmerzen jeglicher Art. Folter. Giftgas, Genozid. Krieg.“ Diese einzige echte Aktualisierung des Originals knallt wie ein Peitschenhieb. John entscheidet sich dennoch für Freiheit, Einsamkeit und Shakespeare. Der Regisseur gibt ihm recht: Anders als im Original, wo John sich erhängt, gönnt Vontobel seinem Helden ein opulentes Schlussbild: Blutüberströmt liegt er neben Lenina, die er im Liebeswahn getötet hat. BARBARA BEHRENDT

■ Staatsschauspiel Dresden, wieder am 21. 9., 19 Uhr, 3. 10., 19.30 Uhr. Weitere Termine: www.staatsschauspiel-dresden.de