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Archiv-Artikel

Nach dem Leben tasten, immer nur tasten

MANIERISMEN II Und hier, passend zu Handke, noch ein Verriss: „Julius“ von Christian Zehnder

Vor drei Jahren erschien Christian Zehnders Debüt „Gustavs Traum“. Es war ein verwirrend zeitenthobenes Märchenbuch, von einer zentimeterdicken Sprachpatina überzogen. Mehrmals musste man sich überzeugen, ob der Autor Christian Zehnder wirklich 1983 und nicht etwa 1883 in Bern zur Welt gekommen ist, was zumindest einige stilistische Eigenheiten des Buches gut erklärt hätte.

Bei „Gustavs Traum“ ließ man sich das Anachronistische und Romantisierende noch gefallen. All das war aufgehoben im schwebenden Charakter der Geschichte. Nun legt Zehnder seinen zweiten schmalen Roman vor, der schlicht nach seiner Hauptfigur „Julius“ benannt ist und wohl in der Gegenwart spielen soll, was Worte wie „Computer“ und „Einkaufszentrum“ zumindest suggerieren. Aber mental sind die drei Helden des Buchs doch in anderen Epochen gefangen.

Wieder ist es eine romantische Reise ins Leben, die Zehnder erzählt. Ein junger Mann löst sich langsam von den Banden seiner Familie, sammelt Erlebnisse, verliebt sich (oder wie man das nennen will), geht durch verschiedene Phasen seiner inniglichen (mit so einem Begriff muss man es wohl bezeichnen) Freundschaft mit Martin, der wiederum Regine den Hof macht, und so plätschert es eine ganze Weile dahin, ohne dass allzu viel Aufregendes geschehen würde, nicht einmal im Innenleben der Figuren. Das alles wird sehr einfach und zugleich in sehr ausgewählter Form erzählt; Sätze, präsentiert wie auf einem Silbertablett. Sie glitzern. Der Wille zum Kunstwerk ist auf jeder Seite spürbar.

Es ist oftmals aber keine poetische Sprache wie bei Zehnders augenscheinlichem Vorbild Peter Handke, sondern eine betuliche. Als würde der Autor sich den Zugriff auf die Dinge nicht gestatten, sondern immer nur tasten, vorsichtig mit den Fingerspitzen das Leben befühlen, in das man doch manchmal wie in etwas Morastiges und Undurchsichtiges hineinfassen muss, um es zu begreifen.

Was bei Zehnder geschieht, ist von einer peniblen Behutsamkeit. Man möchte sich beim Lesen Samthandschuhe zum Umblättern anziehen. In „Gustavs Traum“ hatte diese stilistische Feingliedrigkeit noch etwas Skurril-Interessantes; nun ist es reiner Manierismus. Manchmal kommt das in pathetischer Form daher, etwa wenn gesagt werden soll, dass es zwischen der wie asexuell erscheinenden Gestalt Julius und einer jungen Frau tatsächlich mal zum Äußersten kommt: „In dem silbrig erhellten Raum entstand ein graziöses Liebesspiel“, heißt es da. Mehrere Zuckergussbegriffe in einem Satz sind einfach zu viel, wo es um die schlichte Tatsache geht, dass zwei junge Menschen, die sich zufällig in einem Bett wiederfinden, miteinander vögeln. Das Zusammentreffen der Adjektive „silbrig“ und „graziös“ potenziert den Eindruck der verdrucksten Biederkeit und bringt das ganze zur Kitschexplosion.

Bei solchen Passagen stellt man sich unweigerlich einen Autor vor, der mit einem teuren Füllfederhalter und abgespreiztem kleinen Finger seine Manuskripte nicht etwa schreibt, sondern verfasst. Ulkig ist es manchmal auch. Einmal wird festgestellt, dass Martin ein wenig mitgenommen wirkt von der Liebe zu Regine, wohingegen Julius „vom ergebnislosen Nachdenken eine beinahe modische Welle in der Frisur“ hat. Ergebnisloses Nachdenken ist vielleicht auch das Problem dieses Buchs, denn ergebnislos ist nicht zweckfrei, und die Behauptung von Poesie ist noch nicht Kunst und Manierismen ergeben noch keinen Stil. Keiner soll auf zeitgenössische Weise schreiben müssen, aber wer Zeitlosigkeit anstrebt, muss sich der Gefahren bewusst sein.

Zehnders Figuren sind nicht aus der Wirklichkeit geboren, sondern aus Literatur – es sind papierne Wesen. Das spricht nicht unbedingt gegen sie. Aber es sind eben auch keine Charaktere, die einem in ihrer Schwülstigkeit besonders nahe rücken können – sie wirken wie aus der Zeit gefallen, tragen ein bisschen 19. Jahrhundert und Fin-de-Siècle-Weltschmerz mit sich herum und scheinen vollkommen immun gegen Regungen, die sich nicht in artifiziellen Worthülsen verschlossen mitteilen lassen. Zwischen ihrem Bewusstsein und unserer gegenwärtigen Erfahrungswelt liegen mehr als hundert Jahre. Julius ist allerdings in Wahrheit gar kein Romantiker, was ihn entschuldigen könnte, sondern ein junger Mann ohne große Eigenschaften und Leidenschaften. Er ist nicht auf der Suche, jedenfalls glaubt man ihm seine Sehnsucht nicht recht. Er ist ein Einsamkeitsbehaupter.

„Julius bedauerte, hier nicht dazuzugehören, und doch sagte er fast fröhlich zu den Leuten: ,Ich kenne nicht so viele Menschen wie Martin. Bei uns ist es normal, alles allein zu tun, und nur selten etwas zusammen.‘ Er wiederholte dies an mehreren Tischen, und Martin sagte zu seinen Eltern: ,Hört mal, was Julius sagt!‘“ Wir hören es, aber leider ganz ohne Interesse.

       ULRICH     RÜDENAUER

Christian Zehnder: „Julius“. dtv, München 2011, 119 Seiten, 11,90 Euro