: Auf der Flucht vor sich selbst
Gefeierte Premiere an der Komischen Oper: Barrie Kosky hat Christoph Willibald Glucks „Iphigenie auf Tauris“ als psychoanalytische Studie über Angst und Mordlust inszeniert
Der Schluss dieser Oper gilt gemeinhin als Rückfall in die Konventionen des Barock, die Christoph Willibald Glucks Reformen überwinden wollten. Die Göttin Diana beendet das unvermeidliche Gemetzel zwischen Griechen und Barbaren auf der Insel Tauris, das Volk, das auch vorher nichts zu sagen hatte, jubelt brav. Aber bei Barrie Kosky gerinnt selbst das Happy End zum beklemmenden Bild paradoxer, hoffnungsloser Hoffnung. Aus dem in einen Stahlrahmen eingefassten Fels, dem Altar der Diana, der die ganze Aufführung im Bühnenhintergrund beherrscht, tropft Wasser. In den auf dem gefliesten Boden davor herumliegenden Schalen zum hygienischen Auffangen des Blutes von Menschenopfern sprießen ein paar magere Zweige. Die Bühne ist leer, nur das Plätschern des Wassers ist zu hören, endlose Sekunden lang, dann erlöschen die Scheinwerfer, und einhelliger Applaus beweist, dass es der Komischen Oper gelang, mit ihren vergleichsweise bescheidenen Mitteln großes, unmittelbar packendes Theater auf die Bühne zu bringen.
Besser lässt sich Walter Felsensteins Erbe wohl nicht verwalten. Glucks Oper „Iphigenie auf Tauris“ ist kein Fest für schöne Stimmen und ihre Genießer, sie ist ein elementares Drama über den inneren Zusammenhang von Mordlust und Angst, den Menschen aus eigener Kraft nicht auflösen können. Nur eine Gottheit könnte dem Mechanismus einer immerzu Gewalt erzeugenden Gewalt ein Ende bereiten – wie es bei Gluck geschieht. Aber daran glaubt niemand, auch Gluck nicht, deshalb räumt Kosky die Bühne leer und lässt nur die abstrakte Hoffnung im Raum stehen, es könne absurderweise trotzdem einmal gut ausgehen. Die Bilder, die er uns davor zeigt, kennen wir teils aus dem Fernsehen, teils aus unseren Träumen: Abu Ghraib und Bundeswehrsoldaten, die für Erinnerungsfotos mit Totenschädeln posieren zum einen, bleiche alte Männer und Frauen mit Falten und Hängebrüsten, die uns ein Leben lang beherrschen, zum anderen.
Beides ist gleichermaßen schockierend, die Verhöhnung von Kriegsgefangenen vor ihrer offen gezeigten Schlachtung wie auch die nackten Körper der Greise, aus denen eine Boulevardzeitung vorab einen Sexskandal herauskitzeln wollte. Aber diese zweifellos drastischen Mittel dienen ausschließlich dazu, Glucks 1779 uraufgeführtes Werk mitten in die Gegenwart zu stellen. Es bewährt sich glänzend, all diese einfach gesetzten, schmucklosen, aber klug instrumentierten Melodien enthüllen ebenso einfache, schmucklose Tatsachen der menschlichen Seele. Sie schildern nicht Gefühle, sie analysieren die Tiefen der Triebstruktur und klingen deshalb manchmal fast fröhlich. Doch der harmonische Wohlklang klingt nie zynisch, er ist Ausdruck einer Suche nach Objektivität hinter dem bloß individuellen Leid. Ein verängstigter König lässt die Männer schlachten, die sich auf seine Insel verirren, nicht weniger verängstigt versieht eine Frau diesen Dienst als Priesterin einer grausamen Göttin, der sie einst selbst geopfert werden sollte. Zwei Männer lieben sich so, dass jeder für den anderen sein Leben opfern möchte, der eine hat seine Mutter ermordet, um deren Gattenmord zu rächen, und wird seither von der stummen Furie nackter Greise verfolgt: Vor allem Aufklärungsoptimismus ist Glucks Rückgriff auf die Antike ein Gegenentwurf zu jeder Art romantischer Sentimentalität, und so kühl und präzise singen und zeichnen denn auch Geraldine McGreevy, Kevin Greenslaw, Peter Lohdal die Hauptfiguren: eine gegen ihr Schicksal ohnmächtig aufbegehrende Iphigenie im ganz unpriesterlichen Arbeitsanzug einer Schlachtereiangestellten, dazu zwei verstörte Antihelden auf der Flucht. Opfer sind sie alle, Menschenopfer, die zwar gegen das ererbte Familienunglück anstemmen, aber ihm nicht entkommen können. Nicht schön, aber wahrscheinlich wahr.
NIKLAUS HABLÜTZEL
Nächste Aufführungen: 28. 4., 30. 5., 11. 6.