: Die Jägerin und die Gejagten
UNORTHODOX „Homogenität ist eine Illusion“, sagt Karine Tuil. Ihr Roman „Die Gierigen“ ist eine Dreiecks- geschichte und ein Spiel mit verschiedenen Identitäten zwischen Frankreich und New York. Wir trafen die Autorin in Paris
VON CATARINA VON WEDEMEYER
Manche Autoren käuen wieder. Andere kauen vor, was sonst nicht schluckbar wäre. Zu denen gehört Karine Tuil. Merken Sie sich diesen Namen: Tuil, wie die Tuilerien. Der Vorname ist „banal“, wie die Pariserin selbst sagt. Er verrät genauso wenig über die Autorin wie die Fotos. Aber in erster Linie geht es ja nicht um sie, sondern um ihr Buch: „Die Gierigen“.
Die Gierigen, das sind Samir Tahar und Samuel Baron. Beide irgendwie jüdisch und irgendwie nicht. Es wäre schön, wenn das egal wäre. Ist es aber nicht. Samir geht einem Klischee auf den Leim: Weil er denkt, dass seine arabische Herkunft die Karriere vereitelt, kürzt er seinen Namen auf Sam. Es funktioniert, alle halten ihn für einen Sepharden, er wird Anwalt und zieht nach New York. Aber dann geht alles zu Bruch, die selbst gebastelte Identität, die lukrative Ehe, Ruf und Beruf.
Fabulierte Biografien
Samirs exbester Freund Samuel ist mit jüdisch-orthodoxen Eltern in Paris aufgewachsen. Mit 18 findet er heraus, dass er am Anfang weder Franzose noch Jude war. Seine Eltern haben ihn adoptiert, geboren ist er als Krzysztof in Polen. Samuels Geschichte verläuft cosinuskurvig zu der von Samir: am tiefsten Punkt seines Lebens ist er pleite, kokainsüchtig und von Nina verlassen. Doch im Rausch schreibt er auf einmal einen Bestseller.
„Die Gierigen“ sind mehr als berufliche Himmelfahrten und Sturzflüge. Das Buch stellt Fragen. Nach den Konsequenzen gelebter Klischees, nach Freundschaft, Verrat, Verachtung und Herkunft. Wie weit führt der soziale Determinismus? Der Druck, erfolgreich zu sein? Kann man sich davon freimachen und neu erfinden? Damit wird es metatextuell: Tuil erfindet die Geschichten ihrer Figuren; die Figuren fabulieren die eigenen Biografien so zurecht, dass sie sich verkaufen lassen.
Aber die Realität des Romans ist – wie die echte – komplizierter, als Sam denkt und als Samuel schreibt. Da gibt es einen Kollegen, der ganz normal als arabischer Franzose Karriere macht. Also doch keine jüdische Weltverschwörung. Oder Nina, die gemeinsame Geliebte von Samir und Samuel, die in dem maskulinen Gepose zu kurz kommt. Oder Samirs Halbbruder, der sich statt für die Verleugnung für die Überidentifikation entscheidet und Dschihadist wird. Zu extrem? Seit es IS-Kämpfer gibt, kann Europa solche Realitäten nicht mehr verdrängen. Tatsächlich inspirierte ein realer Gerichtsprozess diese Figur.
Bei Tuil wird der Leser zum Richter. Im Buch zählt jede Meinung. Sogar die des Portiers, der Putzfrau, der Rotlicht-Ladys. Es ist bester zeitgenössischer Realismus: die Autorin will Vielfalt und Ambivalenzen, scheut sich nicht vor Soziolekten und experimentiert mit den Figuren.
Jetzt geht es nicht mehr an der Urheberin vorbei. Wer schreibt so eine Geschichte? Auf der Homepage von Karine Tuil gibt es eine Liste ihrer neun Bücher, ihr Geburtsjahr 1972 und zwei Fotos. Tuil von vorne und Tuil von hinten. Das war’s. Wie viel sie live wohl von sich preisgeben würde? Die Antwort ist: mehr als das Internet. Sie spricht genauso schnell, wie man ihr Buch liest, und zieht nicht mal die Jacke aus.
Karine bleibt beim Sie, stellt sich aber mit Vornamen vor. Sie sitzt auf der Vorderkante, sie hat nicht viel Zeit, die siebzehnjährige Tochter babysittet den kleinen Sohn. Ihre erste Sorge sind die Bildrechte, sie hat schlechte Erfahrungen gemacht. Auch Journalisten traut sie nicht, weil die oft Sätze aus dem Kontext nehmen und falsch zitieren. Das ist tatsächlich heikel, gerade bei den „Gierigen“.
Denn Tuil jagt ihre Leser mit Slashs und assoziativen Sätzen durch ein brisantes Thema nach dem anderen. Der Stil passt perfekt zur beschleunigten Gegenwart. Mal klingt es schmerzhaft direkt, mal zwischentonig, mal fast komisch, wie wenn die Leute auf das Ende des Monats warten „wie auf den Messias“. Da klingt die Verachtung des neureichen Samir mit.
Statt geradeaus und moralisch zu schreiben, nimmt die Autorin den Weg über Szenen. Zum Beispiel Samirs Mutter: sie putzt für einen französischen Politiker und erfüllt auch dessen sexuelle Wünsche. Aber als sie vor ihm kniet, ist es auf einmal er, der sich erniedrigt fühlt. Das ist alltäglicher Rassismus und Sexismus; gleichzeitig subtil und in your face.
Die Autorin weiß, dass ihr Buch gefährlich ist. Manche Leser verurteilen Samir als amoralisches Arschloch. Andere bedanken sich und schreiben, sie sähen sich genau wie er gezwungen, ihre Herkunft zu verstecken. „Wir leben in einer explosiven Gesellschaft“, sagt Tuil. Implizit geistern Autoren wie Sartre, Derrida, Bourdieu und Levinas durch das Buch. Aber Tuil ergreift keine Partei. Sie beobachtet, skizziert und fragt – die Antworten sollen die Politiker finden.
Moralfreier Raum
Der Roman lässt offen, ob es gut oder schlecht ist, sich eine Identität zu konstruieren. Die Literatur sei moralfreier Raum, sagt Tuil. Deswegen erlaubt sie ihren Figuren Dialoge wie: „Die Wahrheit ist, dass die Araber sich ewig gedemütigt und die Juden sich ewig verfolgt fühlen.“ Mit solchen Sätzen hat sie jetzt Probleme. Denn viele verwechseln die Sprüche ihrer Protagonisten mit der Meinung der Autorin. Dabei gibt es im Buch so viele Perspektiven wie Figuren. Es steht Aussage gegen Aussage. „Die Homogenität ist eine Illusion“, sagt Karine Tuil. Autorinnen wie Yasmina Reza und Marie NDiaye dürften zustimmen.
Tuil trinkt schwarzen Kaffee. Hat sie ihr eigenes Leben auch erfunden? Sie lacht vorsichtig. „Nein, alles was ich sage, ist die Wahrheit.“ Dabei sagt sie ja kaum etwas über sich, und was sie schreibt, ist Fiktion. Aber manche Identitäten seien schwieriger als andere, sagt Karine. Zum Beispiel die jüdische: Als Jugendliche fühlte sie sich auf eine Identität reduziert, „die zum Tod führt“, wie sie sagt. Um sich selbst nicht nur mit dem Holocaust zu assoziieren, begann sie, privat jüdische Kultur zu studieren. Mit dem Resultat, dass sie einen positiven Zugang gefunden hat und nun sogar den Sabbat einhält.
Eine Identität sei kein Gefängnis. Aber einfach abschütteln gehe eben auch nicht. Bei Migranten beobachtet Tuil einen Widerspruch: die Gesellschaft verlange, dass sie sich integrieren, und reduziere sie gleichzeitig ständig auf ihre Herkunft. Das gilt für Juden ebenso wie für Muslime wie für jede Minderheit.
Vielleicht hält sich Tuil deshalb so zurück. Sie will ihre Bücher verkaufen und nicht sich selbst. Trotzdem, bei anderen will sie es wissen: als der Fotograf kommt, verschränkt sie die Arme vor der Brust, lächelt – und fragt ihn aus: „Sie sind Franzose?“ Nein, Türke, seit zehn Jahren in Frankreich. Deswegen sei sein Französisch so gut. Aha.
Und dann erzählt die Autorin doch etwas über das eigene Woher: sie ist in einer Pariser Banlieue aufgewachsen. Jetzt wohnt sie im 5. Arrondissement, sprich mitten in der Bourgeoisie. Und sie hat Jura und Medienwissenschaft studiert. So kennt sie verschiedene Welten, genau wie ihre „Gierigen“. Armut und Reichtum. Den Alltag gläubiger und ungläubiger Familien. Sexismus. Den Wettbewerb unter Anwälten. Die Wertlosigkeit eines verkrachten Schriftstellers.
Letzteres dürfte sich nach vier Nominierungen für den Prix Goncourt bei Tuil geändert haben. Aber die gedankliche Beweglichkeit bleibt. Und das Wissen, dass es Mut braucht, dem Anderen wirklich zu begegnen. „Ich schreibe über meine eigenen Ängste“, sagt sie, „über meine Obsessionen.“
Am Ende nimmt Tuil Handtasche und Regenschirm – und kommt noch mal zurück, weil sie fast ihre Lektüre vergessen hätte: Jean Genet, „Die Neger“. Noch so einer, der ohne Filter schreibt. Diese Filterlosigkeit ist man nicht gewohnt. Aber es ist wie beim Kaffee: wer sie kennt, der will den Filter nicht zurück.
■ Karine Tuil: „Die Gierigen“. Dt. v. Maja Ueberle-Pfaff. Aufbau Verlag, Berlin 2014, 470 Seiten, 19,95 €