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Archiv-Artikel

Die stützenfreien Bögen eines Klassikerlebens

LEBENSENTWÜRFE Einer, der sich hielt, auch wenn alles ihn sinken ließ: zwei Ausstellungen zu Kleist

VON DIRK KNIPPHALS

Einer der vielen Gründe, weshalb man – Klassikerstatus hin oder her – schlicht ein Fan des Autors Heinrich von Kleist sein kann, findet sich in einem Brief aus Würzburg. Kleist war dort fasziniert von einem frei stehenden Torbogen, im November 1800 schrieb er an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge: „Warum, dachte ich, stürzt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen.“

Stabilität durch Instabilität – darauf muss man erst einmal kommen. Man wüsste doch gern einmal, was die Propagandisten eines einheitlichen christlich-abendländischen Weltbildes, die bei Klassikerfeiern gerne mit Bildungssprüchen prunken, von dieser Briefstelle halten. Steht sie doch quer zu allen Ansätzen, nach denen sich Stabilität im Leben nur durch feste Stützen der Tradition oder einen geordneten Rahmen der Vernunft herstellen lässt. Kleist zieht für sich einen anderen, „unbeschreiblich erquickenden Trost“: „dass auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken lässt“.

In gleich zwei Ausstellungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, kann man jetzt in diesem Kleist-Jahr diesem Torbogen begegnen. Wenn es irgend geht, sollte man beide Ausstellungen besuchen, um ein aktuelles Bild des vor 200 Jahren gestorbenen Dichters zu bekommen.

Die erste findet sich in Frankfurt an der Oder, Kleists Geburtsstadt, in dem DDR-schicken Haus, das an der Stelle steht, an der einst Kleists Geburtshaus stand; wie fast die gesamte Stadt ist es am Ende des Zweiten Weltkrieges abgebrannt. Hier, in der sogenannten Kleist-WG, hatten Schulklassen die Möglichkeit, Räume nach Kleist-Motiven zu gestalten. Es macht großen Spaß, hindurchzugehen. Man ist gerührt, wenn man etwa das grüne Haus sieht, das Grundschüler nach Kleists Wunsch „Ach, schenkte mir der Himmel ein grünes Haus“ gebastelt und mit eigenen Wünschen verziert haben: „Ach, schenkte mir der Himmel ein kleines Pferd!“ Andere Räume dienen gut als Einführung in Leben und Werk, etwa der, in dem Kleists ausgedehnte Reisen nachvollziehbar gemacht sind. Und den Würzburger Torbogen hat eine Klasse sorgfältig mit Pappe nachgebaut, als Eintritt in ein Kleist-Labyrinth.

In der zweiten Ausstellung findet sich der Torbogen-Brief in der Doppelausstellung „Kleist: Krise und Experiment“ im Ephraim-Palais in Berlin und im Kleist-Museum in Frankfurt (Oder). Das ist die offizielle Schau zum Kleist-Jahr, konzipiert vom Kleist-Biografen und Präsidenten der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Günter Blamberger. Man kommt ziemlich weit damit, wenn man die Würzburger Episode als heimlichen Wegweiser durch diese Ausstellung begreift. Kleist wird hier als Projektemacher präsentiert, als jemand, der in immer neuen Lebensexperimenten immer neuen Halt in sich findet, während um ihn herum alle Stützen ihn immer wieder sinken lassen.

Die Ausstellung ordnet Kleists Leben in Stationen an, in denen er mit Lebensentwürfen experimentierte. Der Soldat, der 15-jährig zum Garderegiment nach Potsdam musste. Der Student, der die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfährt. Der rastlose Reisende durch Europa. Der junge Dichter auf einer idyllischen Insel in der Schweiz. Der Beamtenanwärter in Königsberg. Der schriftstellernde Verteidiger des Vaterlandes und Kämpfer gegen Napoleon. Der Journalist in Berlin. Schließlich der Inszenator seines eigenen Todes. Die Doppelausstellung zeigt nicht unbedingt Neues, aber sie gewichtet entschieden und anregend. An ihr kann man Kleist keineswegs nur als zerrissenen und melancholisch vor sich hin kriselnden Frühmodernen entdecken, sondern als Selbstentwerfer, der die Lebensmöglichkeiten seiner Zeit souverän ausprobierte – und entschieden verwarf, sobald sie ihm nicht mehr einleuchteten.

Aus einer Not macht die Ausstellung eine Tugend: Außer einigen Briefen und Handschriften sind kaum Realien überliefert. Kleist hinterließ keinen Hausstand, es gibt von ihm nur ein einziges als authentisch gesichertes Bildnis. Die Leerstellen füllt die Ausstellung meist geschickt mit Filmen, Schautafeln und Textinstallationen auf.

Fragwürdig wird sie, sobald sie Aktualität allzu direkt behauptet, etwa indem sie Kleists Soldatenzeit mit Filmszenen über heutige Kindersoldaten illustriert. Viel interessanter ist es da, noch einmal zur Kleist-WG zurückzukehren. Das wirklich Berührende an diesem Projekt besteht nämlich gerade in der Leichtigkeit, mit denen es heutigen Jugendlichen gelingt, Anknüpfungspunkte in Kleists Leben zu finden. Darin liegt eine viel schönere Versicherung seiner Aktualität. Mit Lebensentwürfen experimentiert heute eben ein jeder, wenngleich natürlich nicht so konsequent wie Heinrich von Kleist.

Alle Infos zu Kleist-Jahr, Doppelausstellung und Kleist-WG unter www.heinrich-von-kleist.com