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Archiv-Artikel

Von Nomaden und Weltkunst

SACHBUCHPANORAMA Wunderbare Bücher von Bruce Chatwin, Naomi Klein, Peter Burke, Walter Grasskamp, Mariana Mazzucato, Brendan Simms, Hans Keilson

Hinreißend egozentrisch

„Veränderung ist das Einzige, für das es sich zu leben lohnt“, schrieb Bruce Chatwin schon 1966 in einem Brief an einen Freund, noch bevor er sich dem Gegenstand seiner Forschung anverwandelte und selbst zum Nomaden wurde. Wie es dazu kam, macht jetzt ein sorgfältig edierter und von Nicholas Shakespeare und Elizabeth Chatwin herausgegebener Band „Der Nomade“ mit den Briefen Bruce Chatwins deutlich und belegt aus erster Hand die von Shakespeare verfasste umfangreiche Biografie aus dem Jahr 2000.

Drei Jahre arbeitete Bruce Chatwin an einem Buch über die Frage „Warum wandern die Menschen, anstatt stillzusitzen?“ und über die heftigen Vorurteile der zivilisierten Welt gegen die unsteten Wanderer. Nomaden sind Analphabeten, sie sind hart, intolerant, grausam und träge, die „Massenvernichtung“ jedoch „ist eine Spezialität der Zivilisierten. Die ‚Neobarbarei‘ Hitlers war Zivilisation in ihrer bösartigsten Form.“ Sein erster Verleger Tom Maschler ist vom Plan begeistert, findet das Manuskript dann jedoch ungenießbar. Und auch Chatwin muss feststellen, „dass es ein Haufen humorloser, selbstgefälliger, schulmeisterlicher Quatsch ist“. Er hört auf, sich dem Phänomen der Nomaden wissenschaftlich nähern zu wollen, und schreibt mit seinem Patagonien-Buch einen Weltbestseller. Seine Briefe aus allen Winkeln der Welt handeln häufig von seinen zukünftigen Reiseplänen, gerichtet an Leute, bei denen er unterzukommen hofft. Er blieb eine Weile, und bevor es ungemütlich wurde, zog er weiter. Er war „egoistisch und egozentrisch wie die meisten Künstler“, aber er war auch „hinreißend, clever und intelligent“ und er hatte ein einnehmendes Wesen. Seine Briefe belegen das in allen Nuancen und brillieren manchmal durch großartigen Humor, vor allem wenn Elizabeth Chatwin seine Hirngespinste und hochfliegenden Pläne mit trockenen Kommentaren versieht. KLAUS BITTERMANN

Bruce Chatwin: „Der Nomade. Briefe“. Aus d. Engl. v. A. Leube und D. Leube. Hanser, München 2014, 638 S., 27,90 Euro

Das gehört zusammen

Das Buch erscheint zur richtigen Zeit: Mitten hinein in die Debatten um die nächste Krise des Kapitalismus, nach dem Ende des neoliberalen Siegeszugs und vor der wieder beginnenden Diskussion um den Klimawandel, die Ende 2015 in Paris in einem Klimavertrag münden soll: Naomi Kleins neues Buch „This Changes Everything“ bündelt diese Probleme zu einer Analyse, die Ökonomen und Ökologen aus ihren engen Zirkeln holt.

Ihre These: Der Raubtier-Kapitalismus der letzten Jahrzehnte hat das Klimaproblem erst geschaffen – eine Lösung gibt es nur, wenn die Art des Wirtschaftens von Grund auf verändert wird. Der Kampf gegen den Klimawandel sei daher auch der Kampf gegen Sparpolitik, Freihandel und das Aushöhlen staatlicher Leistungen. Die Rettung der Welt ist gleichzeitig grün und rot. Nicht zufällig läuft für sie die Weltherrschaft der multinationalen Konzerne parallel mit den fruchtlosen Versuchen, ein effektives Klimaschutzregime zu errichten. „Unsere Aufgaben kollidieren nun mit dem fundamentalem Imperativ im Herzen unseres Wirtschaftsmodells: Wachse oder stirb!“ Das Buch ist brillant geschrieben und solide recherchiert. Allerdings kommen der Aufstieg der Schwellenländer und ihre fossilen Staatsunternehmen nur am Rande als Täter im Klimakrimi vor. Dennoch bietet Naomi Klein hier so viele spannende Einsichten, dass es das Zeug zu einem Klassiker hat. BERNHARD PÖTTER

Naomi Klein: „This Changes Everything. Capitalism vs. The Climate“. Simon & Schuster, New York 2014, 576 S., 66 Euro

Das Wissen der Welt

Ein kleiner Schritt für Bronislaw Malinowski, ein großer Schritt für die Wissenschaft: Als der Anthropologe im frühen 20. Jahrhundert sein Studierzimmer verließ, um Daten „im Feld“ zu sammeln, sollte er damit sein Fach für immer verändern. Malinowski wusste aber auch, dass der Ethnograf sein durch teilnehmende Beobachtung erworbenes „Rohmaterial“ in „langen arbeitsreichen Jahren“ zu „Wissen“ weiterverarbeiten musste.

All jene Praktiken, die Wissen hervorbringen und beeinflussen, vom Sammeln über das Ordnen, Auswerten und schließlich das Anwenden, sind Gegenstand der spannenden Studie des britischen Kultur- und Medienhistorikers Peter Burke. „Die Explosion des Wissens“ rekonstruiert, auf welchen Wegen wir in den vergangenen 250 Jahren zu unserem heutigen kollektiven Wissen gelangt sind. Dabei untersucht Burke neben der Geschichte von Methoden und Verfahren der Wissensvermehrung auch die Institutionen des Wissens: informelle – wie Kneipen – ebenso wie Universitäten oder Labore. Mit zahlreichen Beispielen belegt er die Anwendung von Wissen in Industrie, Krieg oder Staat – immer vor dem Hintergrund der „zentralen Bedeutung des Ortes bei der Produktion wie beim Konsum von Wissen“.

Gerade physische Infrastrukturen begünstigten seit je die Wissensproduktion, so Burke. Dank der Dampfschifffahrt konnten Vortragsreisende plötzlich zwischen den Kontinenten pendeln, waren aber auch darauf angewiesen, dass jemand die Reisekosten übernahm. Dass „Vermehrung“ von Wissen stets einhergeht mit der strategischen Vernichtung oder Unterwerfung desselben, ist die zentrale These des Kultur- und Medienhistorikers, die er auch am gegenwärtig grassierenden „Informationsfeudalismus“ erkennt, der sich in der Privatisierung der Urheberrechte ausdrückt. Peter Burkes entmystifizierende Geschichte des Wissens nimmt bekannten Heldenepen über wackere Forschertypen ihren Zauber.

Doch so aufmerksam Burke die Netzwerke des Wissens verfolgt, eine physische Tatsache bleibt unerwähnt. Schon Malinowski hatte sein eigener Körper ständig im Weg gestanden: „Der Gesamtplan ist vor allem abhängig von meinem Gesundheitszustand“, schrieb er, nachdem er den Fuß auf den Strand von Neuguinea gesetzt hatte. PHILIPP GOLL

Peter Burke: „Die Explosion des Wissens“. Aus d. Engl. v. M. Wolf. Wagenbach, Berlin 2014, 392 S., 29,90 Euro

Musée imaginaire

Ein eleganter Mann im dunklen Zweireiher, lässig an den Flügel im Salon seines Hauses gelehnt, auf dem Boden vor ihm breitet sich ein Meer von Fotografien aus. Die legendäre Aufnahme, die Maurice Jarnoux 1954 für die Zeitschrift Paris Match schoss, beeindruckt noch heute. André Malraux, bis vor Kurzem Pressesprecher des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, inszeniert sich als PR-Genie in eigener Sache. In einer Pause seiner politischen Karriere macht der Romancier Reklame für sein 1954 erschienenes, dreibändiges Werk „Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale“. Die Kurzformel „Musée imaginaire“ wird zum geflügelten Wort der Kunstgeschichte. Walter Grasskamp zeigt in seinem Buch, wie Malraux mit seinem Buch dem Weltkunstgedanken den Weg bereitete.

So wie er in diesem „eingebildeten Museum“ eine Skulptur von Picasso neben eine antike Fruchtbarkeitsgöttin stellte. Noch wichtiger nimmt Grasskamp die mediengeschichtliche Zäsur: den Wechsel vom kunsthistorischen Text- zum Bildband und die „Emanzipation der Bilder“ über die realen Artefakte: Mit Hilfe der Fotografie wird die Kunstgeschichte beliebig reproduzierbar. Wie nachhaltig Malraux’ Idee die Kunstwelt bis heute beeinflusste, belegt das Fotoarrangement, mit dem Arnold Bode die erste Documenta 1955 einleitete. Der Filmemacher Dennis Adams inszenierte in „Malraux’ Shoes“ 2012 ein Re-Enactement der Szene von 1954. 2002 ruinierte Roger Buergel mit der Idee von der „Migration der Form“ seine Documenta 12. Das Bild des Universalintellektuellen, dem die Kunstgeschichte zu Füßen liegt, ließe sich auch als Vorform des Kurators sehen, der heute als Dompteur der Global Art agiert. Ein glänzend geschriebener Band. Pflichtlektüre für alle Globalisierungs- und Weltkunst-Strategen. INGO AREND

Walter Grasskamp: „André Malraux und das imaginäre Museum“. C. H. Beck, München 2014, 232 S., 29,95 Euro

Von wegen Garage

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel überlässt die Energiewende stärker privaten Kapitalgebern; mit einem Nullhaushalt für 2015 prahlt Finanzminister Wolfgang Schäuble. Alles fatal, würde Mariana Mazzucato urteilen. In „Das Kapital des Staates“ arbeitet sie heraus, dass bei jeder entscheidenden Innovation die öffentliche Hand zuvor jahrzehntelang in Forschung, Entwicklung und Umsetzung investierte, während das Wagniskapital nur einen kurzen Atem zeige. Jenseits der wirtschaftsliberalen Rhetorik seien Staat und Markt untrennbar und Staaten, die nicht investieren, schnell abgehängt. Das illustriert die Ökonomin plastisch an Steve Jobs’ Apple-Konzern, der sich dem Mythos zufolge aus lauter Garagenbastlern zusammensetzt. In Wirklichkeit wurden seine Technologien vom Staat finanziert. Und was gibt Apple zurück? Die Firmenausgaben sind skandalös niedrig, ebenso die entrichteten Steuern. Nein, sagt Mazzucato, der privaten Hand darf man etwas so Wichtiges wie etwa den Ausbau erneuerbarer Energien nicht überlassen. Und fährt ein Unternehmen mit einer Innovation große Gewinne ein, müsse sich der Staat seinen Teil zurückholen. Das ist mal ein Wort. Übersetzt ins Deutsche: Die Koalitionsregierung macht Degrowth.CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Mariana Mazzucato: „Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum“. Kunstmann, München 2014, 320 S., 22,95 Euro

Igel in der Hose

Die Geschichte der Staaten Europas ist geprägt von Einkreisungsängsten, Paranoia und Streben nach Hegemonie. Darin unterscheidet man sich kaum von der Entwicklung auf anderen Kontinenten. Man ist den Gesetzmäßigkeiten kollektiver Aggression und Verteidigung unterworfen. Der Cambridger Historiker Brendan Simms hat sich diesen fortwährenden Kampf um die Vorherrschaft nun aus der Perspektive Deutschlands angenommen. Er beschreibt, wie nach dem Westfälischen Frieden ein System der Konkordanz und Verrechtlichung herausgebildet wurde, das bis zum Ersten Weltkrieg und Ende des Feudalismus ein Minimum an Zivilisiertheit in Europas Mitte versprach.

Aus Perspektive des Deutschen Reichs hatte man über Jahrhunderte den Zarismus im Osten, den Hegemoniebestrebungen der Osmanen im Süden sowie den Mächten im Westen zu trotzen, zuletzt mehr oder weniger freiwillig im Verbund mit den rivalisierenden Habsburgern. Interesse weckt Simms Perspektive vor allem, weil er konsequent die Verzahnung von Innen- und Außenpolitik beleuchtet. Er zeigt, wie Unfreiheit im Inneren zur Aggression im Äußeren führt. Simms ist davon überzeugt, dass die auf Freiwilligkeit und Teilhabe basierenden Demokratien den Despotien und Diktaturen in jeder Hinsicht überlegen waren und sind. Dabei attackiert er auch die Mythen des historischen Antiimperialismus.

Die antiwestliche Rhetorik heutiger islamistischer Netzwerke fußt auf Denkschablonen, die auch schon kommunistische und faschistische Nationalisten für ihre Propaganda einzusetzen pflegten. Nicht nur der oberste Sowjet Chruschtschow wusste (seinerzeit im Kalten Krieg) wie man „Uncle Sam … einen Igel in die Hose“ stopft. ANDREAS FANIZADEH

Brendan Simms: „Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas – 1453 bis heute“. Aus d. Engl. v. K.-D. Schmidt. DVA, München 2014, 896 S., 34 Euro

Tagebuch und Dokument

1944 im niederländischen Delft. Der deutsch-jüdische Arzt und Schriftsteller Hans Keilson hat sich dort versteckt und schreibt Tagebuch. Sorgfältig komponiert er die Fragmente seines Denkens, Fühlens und Erlebens – elegante Sätze, die sein Innenleben vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung reflektieren. In diesen Zeiten der Desintegration hilft das Schreiben dem 35-Jährigen, sich zu strukturieren. Seine Aufzeichnungen sind ein Protokoll des Reifeprozesses, während dessen er seine ambivalenten Empfindungen und widersprüchlichen Gedanken niederschreibt, um sie fast selbsttherapeutisch in sich allmählich in Einklang zu bringen.

Im Mittelpunkt steht die Liebe zu seiner Ehefrau Gertrud Manz und ihrer gemeinsamen Tochter einerseits und der viel jüngeren Hanna Sanders andererseits. Es geht um seine Berufung als Arzt und seine Entwicklung als Dichter: „Das Doppelwesen, das ich bin, ermüdet mich. Je doppelter, desto mehr Artist.“ Offen artikuliert Keilson seine Ängste und Zweifel, er sinniert über Rache an den Deutschen und seine noch verbliebene Identifikation mit dem Herkunftsland, über Heimat und die Fremde, über Kafka oder Kierkegaard. Fragen nach Scham, Erbsünde, Glaube und Gott durchweben seinen dichten, erzählerisch-autobiografischen Text. Den zweiten Teil bilden 46 Sonette, die Keilson für seine damalige Geliebte dichtete. Hans Keilson starb 2011 im Alter von 101 Jahren. Sein Tagebuch, das jetzt erschienen ist, trägt viel zum Verständnis des weltberühmten Literaten und Psychoanalytikers bei und ist zugleich ein ungewöhnliches Zeitdokument des Zweiten Weltkrieges. ALEXANDRA SENFFT

Hans Keilson: „Tagebuch 1944 und 46 Sonette“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2014, 256 S., 18,99 Euro