: Vieles, was wir nicht verstehen
ANTIPROPAGANDA Im Kalten Krieg hinter den Eisernen Vorhang geblickt: John Steinbecks „Russische Reise“, bei der Frank Capa den Schriftsteller begleitete, erscheint erstmals auf Deutsch. Christian Brückner las im Russischen Haus daraus vor
Ilija Trojanow hat einen Schatz gehoben. Wer geglaubt hat, alle Bücher des amerikanischen Schriftstellers und Journalisten John Steinbeck seien längst ins Deutsche übersetzt, den belehrt der Herausgeber der Reihe „Weltlese“ eines Besseren. Trojanow hat Steinbecks „Russische Reise“ entdeckt. 1947, zu Beginn des Kalten Krieges, reiste John Steinbeck zusammen mit dem Fotografen Robert Capa in die UdSSR, um dort jenseits aller Vorurteile nicht etwa über die sowjetische Politik zu berichten, sondern eine Reportage zu schreiben, die die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang in den Mittelpunkt stellt: „Russische Politik ist wichtig, ganz wie die unsere, aber daneben muss es doch auch noch, ganz wie bei uns, das normale Leben geben. Das russische Volk musste ein Privatleben haben, und darüber konnten wir nichts lesen, weil niemand darüber schrieb und niemand es fotografierte.“
Zur Vorstellung der deutschen Erstausgabe der „Russischen Reise“ im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in der Friedrichstraße ist Trojanow leider nicht gekommen. Mario Früh, Geschäftsführer der Edition Büchergilde, in der die „Weltlese“ erscheint, entschuldigt ihn in breitem Hessisch. Er sei auf einer Hochzeit in Bulgarien, deren Termin er leider nicht habe verschieben können. Das Brautpaar sei dagegen gewesen. Nachdem er sich umständlich bei allen bedankt hat, die die Veranstaltung ermöglicht haben – „das gehört irgendwie zum Ritual, aber ich mein’s ernst“ –, kündigt er Christian Brückner an, der aus Steinbecks Reportage lesen wird. Brückner sei den meisten bekannt als die deutsche Synchronstimme von Robert De Niro, aber zudem noch Verleger eines Hörbuchverlags und außerdem ein fleißiger Leser. „Aber nur von guder Literatur. Alles andre kamma auch net so gut lese“, fügt Früh hinzu.
In seinem markanten, leicht heiseren Bariton trägt Christian Brückner das erste Kapitel vor, das sich mit der Vorbereitung der Reise beschäftigt, und eines aus der Mitte des Buches, das die Arbeit in einer ukrainischen Kolchose beschreibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ernten die Landarbeiter das Getreide wieder von Hand, und Steinbeck schildert ihre harte Arbeit ohne falsches Pathos: „Diese Menschen arbeiteten seit tausenden von Jahren auf diese Weise, und dann standen eine Weile mechanisierte Gerätschaften zur Verfügung, und nun muss wieder alles von Hand erledigt werden, bis neue Maschinen gebaut werden können.“
Show, don’t tell
Heute, über 60 Jahre später, ist die Sowjetunion Geschichte, die wir in Geschichtsbüchern nachlesen können. Trotzdem ist Steinbecks Reportage brandaktuell. Nicht wegen des Themas, sondern wegen der Methode: „Wir würden versuchen, eine ehrliche Reportage zu machen, ohne Kommentar festzuhalten, was wir sahen und hörten, ohne Schlussfolgerungen über Dinge zu ziehen, über die wir nicht genug wussten, und ohne uns über bürokratische Verzögerungen aufzuregen. Wir wussten, es würde vieles geben, was wir nicht verstehen, vieles, was wir nicht mögen, vieles, was uns unangenehm sein würde. Das trifft auf alle fremden Länder zu. Aber wir waren fest entschlossen, sollten wir kritisieren, dann würden wir erst kritisieren, nachdem wir der Sache ansichtig geworden waren und nicht schon vorher.“
Indem er, ohne zu werten, Eindrücke sammelt, Widersprüche und Lücken stehen lässt, tut er das, was man heutzutage auf das Schlagwort „show, don’t tell“ bringen würde. Und wahrscheinlich kommt John Steinbeck so der Wahrheit am nächsten, auch wenn er offen zugibt, nicht zu wissen, was „Wahrheit“ ist. Diese Haltung ist ein Schatz, der bis heute nicht an Wert verloren hat, obwohl die Welt seit 1947 eine andere geworden ist. KRISTINA RATH
■ John Steinbeck: „Russische Reise“. Mit Fotografien von Robert Capa. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2011, 298 S., 19,90 Euro