: Mir dir – und gleichzeitig ohne dich
Wie zusammen leben? Diese Frage stellt sich der französische Theoretiker Roland Barthes – die Vorlesung ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. Eine Ethik der richtigen Distanz
Im Moment der wiederkehrenden nervigen öffentlichen Rede über die Ehe ergab es sich, dass in der Buchhandlung Schwarze Risse im Berlin-Kreuzberger Mehringhof ein Buch im schönstem rosa Umschlag, auf dem groß der Name Roland Barthes stand, zu mir sprach: Von der Ehe werde ich nichts erzählen. Das tat gut. Barthes’ schönes Buch handelt einerseits vom Zusammenleben – und relativiert andererseits auch gleich noch das Gerede von der Suhrkamp-Krise. Wer ein solches Buch so herausbringt, befindet sich in keiner Krise, sondern hat eine richtige Entscheidung getroffen.
„Wie zusammen leben“, so der Titel, ist der Text zu Barthes’ erster Vorlesung am College de France nach seiner Wahl zum Professor 1976. Barthes war auf Vorschlag Michel Foucaults mit nur einer Stimme Mehrheit auf den Lehrstuhl für Literatursemiologie gewählt worden. In der knappen Entscheidung im Kollegium sprach sich auch das Misstrauen vieler Wissenschaftler gegen Barthes aus. Bis dahin hatte sich Barthes’ akademische Laufbahn immer – institutionell wie räumlich – an den Rändern der Universität abgespielt. Er war ohne agrégation, die in Frankreich obligatorische Prüfung für die Zulassung als Lehrer im höheren Schuldienst, geblieben, die Stationen seiner Lehre führten ihn nach Rumänien, Ägypten und Marokko. Einen Theoretiker, der Barthes immer war, macht das im institutionengläubigen Frankreich verdächtig. Foucault hatte ihn als Schriftsteller am College eingeführt, der die seltene Gabe besitze, „Intelligenz und Schöpfung“ zu verbinden, und deshalb keiner weiteren Qualifikationen bedürfe.
Barthes’ Vorlesung, die nun fast 27 Jahre nach seinem Tod auf Deutsch erscheint, folgt dem Phantasma, „allein leben zu wollen und zugleich, ohne Widerspruch dazu, zusammen leben zu wollen“. Man kann aus dieser Formulierung ersehen, dass das Phantasma nicht dialektisch ist. Zwei Bewegungen existieren nebeneinander, treten nicht in Konkurrenz, verlangen weder eine synthetische noch eine in eine Richtung ausschlagende Entscheidung wie eine Einsiedlerexistenz oder die Unterordnung unter das Reglement eines Kollektivs. Aber wie soll das gehen? Denn ohne praktisches Beispiel, das ist für den Geschichtsmaterialisten Barthes klar, ist sein Phantasma ohne Wert.
Ein Phantasma ist für Barthes ein „wiederkehrendes Begehren, das sind Bilder, die in uns herumschleichen, einander suchen, manchmal ein ganzes Leben lang, und sich erst bei der Begegnung mit einem bestimmten Wort auskristallisieren“. Dieses Wort findet Barthes zufällig bei der Lektüre der Beschreibung der Lebensweise bestimmter Mönche auf dem heiligen Berg Athos in Griechenland. Es lautet „Idiorrhythmie“, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern idios für „eigen“ und rhythmos für „Rhythmus“ oder „Maß“. Die idiorrhythmische Lebensweise der Mönche bleibt buchstäblich in ihrem eigenen Rhythmus. Die Mönche haben Einzelzellen, sie nehmen ihr Essen allein ein, dürfen die Dinge behalten, die sie beim Ablegen der Gelübde besaßen, selbst die Teilnahme an den Gottesdiensten ist dem Belieben des Einzelnen überlassen. Für Barthes wird diese innerhalb der Institution des Klosters mögliche Form des Zusammenlebens zum Muster für die Erhaltung der Unabhängigkeit des Subjekts in der Gemeinschaftlichkeit der Gruppe.
Man kann an dem Begriff der Idiorrhythmie zwei auch methodische Verfahrensweisen von Barthes’ Erörterung zeigen. Zum einen ist es die Hinwendung zu Formen des Gemeinschaftslebens in den Klöstern der Ostkirche, deren Regeln er weniger erstarrt fand als die des römisch-katholischen Westens. Zum anderen bleibt Barthes im „griechischen Begriffsnetz“. Auf griechische Wörter zurückkommen, meint er, heiße, „nicht in Eile zu sein, und manchmal ist diese Langsamkeit notwendig, damit sich der Signifikant wie ein Duft entfalten kann“.
Den Duft der Idiorrrhythmie entfaltet Barthes dann schnell außerhalb der religiösen Ursprünge. Er geht mit Hilfe von Romanen wie André Gides „Die Eingeschlossenen von Poitiers“ und Thomas Manns „Zauberberg“ typische Räume menschlichen Lebens durch, wie das einsame Zimmer, die Höhle, das Grandhotel und das bürgerliche Mietshaus. Die Frage, die ihn anleitet, bleibt dabei immer, inwiefern in den Räumen die Distanz zwischen den Subjekten gewahrt bleibt beziehungsweise gewährt wird und wie sich das Verhältnis in ihnen zur Macht gestaltet. Bei seinem Gang durch die Arten des Zusammenlebens, in deren Untersuchung er Tiersozietäten einbezieht, kommt er natürlich zu keiner allgemeingültigen Antwort. Er meint aber, dass die Wechselfälle des idiorrhythmischen Zusammenlebens nur über den Entwurf einer Ethik der Distanz zu regeln ist. Denn „zweifellos liegt hier das Hauptproblem des Zusammenlebens: die kritische Distanz zu finden und zu regeln, die, wenn sie unter- oder überschritten wird, eine Krise hervorruft“. CORD RIECHELMANN
Roland Barthes: „Wie zusammen leben“. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. edition suhrkamp 2007, 283 Seiten. 14 €
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