: Am Herzen des Atomkraftwerks
Der Atomreaktor Brunsbüttel ist stillgelegt. Allerdings nur zeitweise. Während der jährlichen Revision untersuchen Techniker und Ingenieure das Kraftwerk. Ein Mitarbeiter tut das ganze Jahr über nichts anderes als diesen Super-Tüv vorzubereiten. Die taz half bei der Inspektion und fand lose Dübel
AUS BRUNSBÜTTEL GERNOT KNÖDLER
Ein Besuch im Atomkraftwerk Brunsbüttel beginnt wie in der Irrenanstalt. Vor der Schranke zum eigentlichen Kraftwerksbereich schlappen Männer in weißen Kitteln und mintgrünen Badelatschen durch die Flure. Ihre Beine sind nackt. Ein paar von ihnen sitzen in einem kahlen Sozialraum und vespern. Die Männer tun im „heißen“ Bereich des Atomkraftwerks Dienst, dort wo eine Kontamination mit strahlendem Material möglich ist. Damit sie möglichst wenig davon verteilen, ziehen sie ihre Arbeitsoveralls aus, sobald sie aus dem Reaktorgebäude kommen und schlüpfen stattdessen in die Kittel, um Pause zu machen.
Auch das AKW hat gerade Pause. Noch bis zum Montag tummeln sich neben der Belegschaft 1.100 Techniker und Ingenieure im Kraftwerk. Im Rahmen der jährlichen Revision kontrollieren sie Schraubverbindungen; sie prüfen, ob die Rohre dicht sind, die Ventile leicht gehen und ob die Elektrik macht, was sie soll. Dabei sind die Prüfer und das für die Atomaufsicht zuständige schleswig-holsteinische Sozialministerium durchaus pingelig. Es seien 22 nicht vorschriftsgemäß montierte Dübel aufgefallen, teilte die Aufsichtsbehörde Mitte der Woche mit. Nun würden alle 253 Dübel gleicher Bauart überprüft. Die Kontrollen können für die Betreiber viel Geld kosten. In den 90er Jahren stand das AKW Brunsbüttel drei Jahre lang still, weil Risse in Schweißnähten aufgefallen waren.
Knut Frisch plant diesen AKW-Tüv. Er tut das ganze Jahr über nichts anderes. „Wir müssen manche Systeme zerlegen, während andere weiterlaufen“, sagt der gelernte Schiffsingenieur, der seit 27 Jahren im Atomkraftwerk arbeitet. Das will gut koordiniert sein. Es müssen Aufträge an Fremdfirmen vergeben und Spezialwerkzeuge beschafft werden. In diesem Jahr wurden der Reaktor, der Heizkessel des Atomkraftwerks, und der ihn umgebende glühbirnenförmige Sicherheitsbehälter auf Dichtigkeit geprüft. Dafür musste der Reaktor leer geräumt werden, was die Revision auf 28 Tage ausdehnte. 500.000 Euro am Tag kostet der Spaß.
Auch die genaueste Prüfung konnte nicht verhindern, dass im Dezember 2001 eine Rohrleitung mit mehreren Millimetern Wandstärke explodierte. Die Kraftwerksleitung erklärte den Druckabfall zunächst mit einer „spontanen Dichtungsleckage“, der harmlosesten Variante eines möglichen Störfalls. Nach zweimonatigem Ringen mit der Atomaufsicht erklärte sich die Betreiberfirma, damals HEW, inzwischen Vattenfall, bereit, den Reaktor herunter zu fahren und eine Sonderinspektion zu erlauben. Die Prüfer sahen Leitungsenden, die aussahen wie Kanonen mit Rohrkrepierern. Mehr als zwei Meter Leitung fehlten. Es hatte eine Knallgas-Explosion gegeben, mit der keiner gerechnet hatte.
Der Stillstand des Kraftwerks während der Revision macht es möglich, Kraftwerksteile zu besichtigen, die sonst nicht zugänglich sind. „Im oberen Teil des Sicherheitsbehälters kann man sich bei Volllast nicht aufhalten“, sagt Frisch. Hier explodierte das Rohr. Auch von den Frischdampfleitungen droht Gefahr. Sie enthalten während des Betriebs ein stark strahlendes Element. „Diese Leitungen verlaufen in Betonkanälen“, sagst Frisch. „Es lohnt sich ohnehin nicht, dort herum zu kriechen.“
Auch der Besucher kriegt einen Kittel, wie ihn die Beschäftigten tragen, darf aber die Hosen anbehalten. Dazu kommen weiße Überschuhe mit Gummizügen und Stoffhandschuhe. Die beiden Brusttaschen sind durchsichtig, damit jederzeit zu sehen ist, ob die Mitarbeiter ihre Strahlungsmessgeräte bei sich tragen. Eines dieser Dosimeter besteht aus einem Film, der einmal im Monat von einer staatlichen Stelle ausgewertet wird, am zweiten kann der Mitarbeiter ablesen, wie viel Strahlung er bei seiner Arbeit abbekommen hat. Auch der Gast kriegt ein solches Dosimeter. Es zeigt Null Mikrosievert. „Wenn Sie einmal nach Mallorca fliegen, kriegen sie 20 Mikrosievert ab“, sagt Frisch.
Um durch eine Drehtür in den heißen Bereich des Kraftwerks zu gelangen, muss der Ingenieur seinen Fingerabdruck scannen lassen. Das Gerät überprüft auch, ob der Finger lebt. „Sämtliche Eingänge liegen sieben Meter über Normalnull“, sagt Frisch. Als das Kraftwerk Ende der 60er Jahre geplant wurde, war den Menschen an der Elbe die Flutkatastrophe von 1962 noch sehr präsent. Frisch führt die Besucher auf eine Ebene oberhalb es Sicherheitsbehälters. Hier gibt es zwei große, intensiv blaue Wasserbecken, über denen sich eine rote Arbeitsbühne bewegt.
Reaktor und Sicherheitsbehälter wurden für die Revision geöffnet. Der rostig-rote Reaktordeckel liegt offen da – allerdings in einer entfernten Ecke. Er ist 85 Tonnen schwer und hat den Durchmesser eines großen Planschbeckens. Wenn man nicht gerade darauf herum krieche, gehe keine Gefahr aus von dem Deckel, versichert Frisch. Neben der Besuchergruppe türmen sich entlang der Wand die mehr als zwei Meter dicken Teile der Betonabschirmung, die über dem Sicherheitsbehälter liegt, wenn der Reaktor läuft. Gelbschwarzes Plastikband warnt vor Radioaktivität.
Jetzt steht der Reaktor unter Wasser und die Falze, in die die Betonblöcke eingesetzt werden, sind gut zu erkennen. Von dem Wasserbecken über dem Reaktor kann der Mann auf der Arbeitsbühne die Brennelemente mit einer Teleskopstange unter Wasser durch eine Schleuse hindurch ins benachbarte Abkling- und Lagerbecken heben. Ein Blick ins dunkelblaue Wasser des Abklingbeckens offenbar das regelmäßige Raster des Gestells in dem die Brennelemente stecken. Das Wasser schirmt die Strahlung ab.
Ein Stockwerke tiefer sind die Frischdampfleitungen zu sehen, die aus dem Sicherheitsbehälter führen und weiter zu den Turbinen im Maschinenhaus. Die Segmente der Blechverkleidung eines kleineren Rohres sind mit Filzstift nummeriert, so das klar ist, welcher wohin gehört. Sie waren samt der Isolierung abgebaut worden, so dass die Revisoren die Schweißnähte röntgen konnten.
Auf den Stufen treppab kleben grüne Punkte mit fluoreszierenden Pfeilen: der Fluchtweg. An der Wand hängen in einem Kästchen Atemschutzmasken. Auf jedem Treppenabsatz ist das Stockwerk angegeben – in Metern, damit sich die Techniker schnell zurecht finden, wenn sie ein bestimmtes Bauteil suchen.
In der unteren Hälfte des stählernen Sicherheitsbehälters haben die Revisoren eine kreisrunde Tür wie bei einer Raumkapsel geöffnet. Sie gibt den Blick frei auf den Reaktor, das Allerheiligste dieses Technik-Tempels, der wegen der vielen Rohre und Leitungen aber kaum zu sehen ist.
Wer den heißen Bereich verlassen will, muss über Klebematten und automatisch bürstende Fußabtreter latschen. In zwei Schleusen wird der Körper automatisch nach radioaktiven Partikeln abgesucht. Eine elektrische Stimme befiehlt: „Zurücklehnen!“ „Kopf positionieren!“ Es finden sich keine Partikel und die Schleuse öffnet den Weg in das Sanatorium mit Männern in Badelatschen. Das Dosimeter zeigt am Ende zwei Mikrosievert. Mallorca wäre schlimmer gewesen.