: Das liberale Drama
Schon Schiller hat gewusst, dass man sich vor den Fanatikern der Freiheit fürchten sollte DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Im Magnus-Haus, schräg gegenüber dem Berliner Pergamonmuseum, wurde über die Freiheit nachgedacht. Die Freiheit sei gerade sehr bedroht, was man schon daran erkenne, dass fast niemand das merke, hieß es. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hatte eingeladen und ihr Vorstandsvorsitzender erklärte, dass der Name unvollständig sei: es müsse genauer „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ heißen. Kann man eine Stiftung für die Freiheit gründen? Ist das nicht, als würde man eine Stiftung für die Liebe gründen?
Es wurde ein seltsamer Abend. Ein empirischer Sozialforscher, eine Sozialwissenschaftlerin und ein FAZ-Wirtschaftsjournalist sagten immerzu sehr begrüßenswerte freiheitliche Dinge: Etwa, dass ein freier Bürger eines freien Landes so fett sein darf wie er will, was die Gesundheitsministerin gar nichts angehe. Das hatte ich auch schon gedacht. Wer bei der Vorstellung des Programms zur „nachhaltigen“ Bekämpfung der Fettleibigkeit des Volkes nicht das spontane Bedürfnis gespürt hat, eine Woche lang nur noch Bratwurst mit Pommes zu essen, dem fehlt ein entscheidendes Freiheitsgen. Entschuldigungen wie „Und wie sehe ich danach aus?“ zählen diesmal nicht – dieses Selbstopfer ist jeder der Freiheit schuldig!
Der FAZ-Wirtschaftsjournalist überlegte, ob man nicht die Schulpflicht aufheben könne. Wahrscheinlich kann kein wirklich Liberaler auf die Dauer mit einem Wort auskommen, das die Silbe „-pflicht“ enthält, auch wenn „Schulpflicht“ nur die Freiheit bedeuten könnte, zur Schule gehen zu dürfen. Die Sozialwissenschaftlerin wies nach, dass das Endziel der geschichtlichen Entwicklung der freie westliche Mensch ist, und sie klang ein wenig so, als habe sie diesen freiheitlichen westlichen Menschen persönlich erkämpft. Und keine Toleranz gegenüber den Muslimen! Schließlich sind die nicht das Ziel der Geschichte, sondern gewissermaßen die Feinde des Ziels der Geschichte.
Mein Nachbar – dunkler Anzug mit Schlips, hatte soeben noch ein Knut-Poster entfaltet – klopfte sich vor Zustimmung auf die Knie. Ist das eine mutige Frau!, flüstert er, mein Gott, was für eine mutige Frau! Die war inzwischen schon zur Analyse des Kampfrufes der Französischen Revolution übergegangen. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ Ob uns etwas auffällt? Genau, die Freiheit kommt zuerst. Wie aber sieht es aus bei uns, mehr als zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution?
Gleichheit und Brüderlichkeit wollen die Menschen, nicht nur in Berlin-Marzahn. „Marzahn“ schwebte aber bald als zweite Hauptfeindin der Freiheit über den Köpfen der Magnus-Freiheitsgemeinde. In Marzahn könne man im Falle einer freiheitlichen Umbildung unseres Bildungssystems – jeder gründet die Schule, in die er immer schon gehen wollte – Bildungsvoucher ausgeben, weil die Eltern dort das Schulgeld ihrer Kinder sonst wahrscheinlich vertrinken, schlug eine Freiheitsbürgerin vor. Nachher standen sie grundzufrieden mit sich in dem schönen Magnus-Garten bei den großen Bäumen und dachten über die Crux der Freiheit nach. Freiheit ist, wenn jeder eine Schule gründen darf. Die Crux der Freiheit ist, dass die Muslime dann gewiss lauter Koranschulen gründen würden. Und die Marzahner Trinker vielleicht lauter kleine Parteischulen.
Seltsam, wie allein man sein kann in großer Gesellschaft. Abgesehen davon, dass ich eindeutig die älteren freiheitlichen Rechte auf diesen Garten hatte. Denn genau hier haben wir, Studenten der Humboldt-Universität, im März 1990 zum ersten Mal erfahren, was Freiheit ist. Da kann ja jeder machen, was er will, auch das Falsche! Hier hatten wir zusammen die Ergebnisse der ersten und letzten freien Wahlen in der DDR abgewartet. „Freiheit statt Sozialismus“ hatte gewonnen. Also wir hätten das nicht gewählt, schon wegen der intellektuellen Selbstachtung. „Freiheit statt Sozialismus“ ist historisch unpräzise, schließlich hatte der Sozialismus als große Freiheitsbewegung begonnen.
Vielleicht irritierte mich, dass diese Freiheitsinsassen so einverstanden mit sich waren. Es störte sie auch nicht, dass Berlin-Marzahn zwar ein Bezirk mit vielen PDS-Wählern und Plattenbauten, aber auch mit vergleichsweise wenig Promille und überdurchschnittlichem Einkommen ist. Denn nicht die Verlierer, sondern junge Familien sind einst dorthin gezogen, und noch sind nicht alle wieder weg. Es störte sie schon deshalb nicht, weil sie es nicht wussten. Auch meinte der Freiheitsruf der Französischen Revolution vor allem das Ende des Standesdünkels: Dass ein jeder, hoch oder niedrig geboren, den gleichen Anspruch hat, Mensch zu sein. Sogar die Sklaven der neuen Zeit – die Proletarier – fingen an, das zu glauben, sonst hätte es den Sozialismus nie gegeben.
Vielleicht trennt uns eine historische Erfahrung. Jedes Partei-Denken macht aus Gedanken Kampfprogramme. Ist nicht der Mensch ebenso ein Bindungswesen, wie er ein Freiheitswesen ist? Vielleicht ist Denken doch ein Spannungsbegriff: Es ist das, was sich zwischen Polen ereignet. Die meisten Menschen mögen das nicht. Das ist verständlich, denn es kommt nichts dabei heraus. Nichts, was man einfach umsetzen und sich auf die Fahnen schreiben kann. Das störte die DDR-Einmaurer ebenso wie es jetzt die Entgrenzer stört, denen die Freiheit so ein warmes Gefühl gibt.
Dabei lässt sich, genau genommen, nichts Kälteres als die Freiheit denken. Mit nichts kann man seine Mitmenschen mehr erschrecken. Wer nach seiner Arbeit gefragt, antwortet „Ich bin frei“, sieht in einstürzende Gesichter. Es wirkt unheimlich, sein eigenes Risiko zu sein. Das ist schon richtig, manchmal ist das wirklich unheimlich. Und kränkend ist es auch, denn Gesichter sind auch nur Seismographen. Sie zeigen getreulich den freien Fall deiner gesellschaftlichen Wertschätzung an. Wer frei ist, steht darin, muss ein Versager sein. Denn wenn er gut wäre, wäre er doch nicht mehr frei.
Am Post-Magnus-Abend war ich bei Peter Steins Zehn-Stunden-„Wallenstein“ in Neukölln, der Gegend der potenziellen Koranschulen-Gründer. Man merkt das nicht sofort, aber der „Wallenstein“ ist in Wirklichkeit ein liberales Drama. Wallenstein, der global player, der moderner Unternehmer, der absolut freie Mensch. Und dann plötzlich der unfreieste von allen. Die langen Gedanken brauchen eben etwas länger. Und selten waren zehn Stunden so kurz. Warum schauen die Freiheitsdenker eigentlich meistens bis nach Schottland, wenn sie etwas ältere Gedanken über die Freiheit suchen?
Der deutsche Idealismus war nichts anderes als ein großes Freiheitsdenken. Und Schiller hat sogar gewusst, dass man sich vor den Fanatikern der Freiheit fürchten sollte. Weil sie innerlich unfrei sind, glaubte er. Freiheit heißt, Handlungsmöglichkeiten haben. Das erklärt auch, warum in freien Gesellschaften die gefühlte Ohnmacht am größten ist. Soweit die Freiheit als äußere Bestimmung. Was sie aber eigentlich ist, hat vielleicht auch nie jemand so schön gesagt wie Schiller. Freiheit ist Sich-selbst-Angehören. Ein Bindungswort also. Ob die Freiheits-Stifter darauf gekommen wären?
Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin