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Archiv-Artikel

Die ganze Welt in einem Dorf

KOMPLEXITÄT Ein Buch projiziert die Welt in eine erdachte Mikrowelt und eröffnet damit eine ganz neue Sicht auf die Globalisierung

Marshall McLuhan erfand sein berühmtes Bild vom „globalen Dorf“ einst als Metapher für die elektronisch vernetzte Welt. Nun haben die österreichischen Wirtschaftshistoriker Josef Nussbaumer und Andreas Exenberger die abstrakte Idee vom „globalen Dorf“ einmal ganz konkret gefasst: In „Unser kleines Dorf“ schrumpft die Erde mit all ihren Eigenschaften, Bewohnern, Chancen und Problemen auf ein Dorf mit 100 Menschen.

Durch den Kunstgriff entsteht eine Mikrowelt, in der die gewohnte Komplexität globaler Zusammenhänge wie weggeblasen ist: Probleme werden offensichtlich, Wege zu ihrer Lösung sichtbar. So transparent wurden Zustände, Konflikte und Perspektiven rund um die Globalisierung selten dargestellt.

„Globo“ nennen die Autoren das Dorf mit fünf Siedlungen: Auf eine Fläche von knapp drei mal drei Kilometern (840 ha) verteilen sich darin die Ortsteile Asien (61 Einwohner), Afrika (13), Europa (12), Lateinamerika (9) und Nordamerika (5).

Globo ist kein malerisches Idyll und nur zum kleinsten Teil im 21. Jahrhundert angekommen. Über dem Dorf liegt ein unangenehmer Geruch: 90 Prozent des Abwassers von Globo werden nicht geklärt. Nahezu jeder zweite Bewohner hat hier keinen Zugang zu Toiletten oder anderen sanitären Einrichtungen. 20 Menschen, die in Globo leben, verfügen nicht einmal über sauberes Trinkwasser. Die Hälfte der Dorfbevölkerung lebt unterhalb der von der Weltbank definierten Grenze für „absolute“ Armut. Ebenso viele Bewohner erzeugen die Energie für den täglichen Bedarf an offenen Feuerstellen.

Über die Lebenschancen entscheidet in dem Dorf vor allem die Wohnlage. Auf einer Fläche, die kleiner ist als die des Berliner Stadtteils Kreuzberg, liegen Elend und Reichtum in Globo dicht beieinander. Nur ein paar Straßen hinter Globos Armenvierteln leben die 17 Einwohner in den Ortsteilen Nordamerika und Europa vergleichsweise im Überfluss. Sie verbrauchen nahezu 80 Prozent der verfügbaren Ressourcen des Dorfes.

Die zwei reichsten Männer des Dorfes besitzen die Hälfte des gesamten Vermögens von Globo, während sich die ärmsten 50 Bewohner nur 1 Prozent des Vermögens teilen. Für sie bleiben selbst Job oder Altersvorsorge ein lebenslanger Traum. Gerade einmal 12 Menschen – die meisten davon Männer – haben in Globo einen regulären Arbeitsplatz und ein sicheres Einkommen. Im Alter bekommen nur etwa 20 Bewohner des Dorfes Geld aus einer öffentlich finanzierten Rentenkasse. Im Krankheitsfall gibt es für etwa 40 Bürger von Globo keine medizinische Versorgung. Glücklich können sich die 25 reichsten Menschen im Dorf schätzen: Ihnen kommen 92 Prozent der gesamten Ausgaben für Medikamente zugute.

Das Buch beschränkt sich aber nicht auf Zahlen, sondern ordnet sie in historische Zusammenhänge der letzten 200 Jahre ein. In acht pointiert geschriebenen Kapiteln beschreiben sie Globo hinsichtlich der Bevölkerung, Wirtschaft, Landwirtschaft, Energie, Mobilität, Arbeit und des Konsums. Obwohl die unfaire Verteilung von Lasten und Chancen sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, lassen sich die Autoren nicht zu Klageliedern hinreißen. Nussbaumer und Exenberger vertrauen darauf, dass die Zahlen und Abbildungen für sich sprechen. Ihre Quellen sind fundiert, Überzeugungskraft geht auch von den mehr als 60 Computergrafiken aus. Stefan Neuners comichaft-farbenprächtige Gestaltung erinnert eher an ein Spiel wie „Die Siedler“ als an ein Sachbuch über Globalisierung. „Unser kleines Dorf“ bietet einem breiten Publikum verblüffende Einsichten.

In Österreich wurde das Buch mit dem Bildungsinnovationspreis des Landes Tirol ausgezeichnet. Patentlösungen, wie den größten Problemen in den Bereichen Umwelt und Verteilung beizukommen ist, findet man in ihm nicht. „Unser kleines Dorf“ fasziniert jedoch und ermutigt, scheinbar unlösbare Probleme neu anzugehen. Es gibt viel zu tun: Unser Dorf muss schöner werden! TARIK AHMIA

Josef Nussbaumer, Andreas Exenberger, Stefan Neuner: „Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen“. IMT Verlag, Kufstein 2011, 192 Seiten 27,90 Euro, www.unserkleinesdorf.com