piwik no script img

Freizeit in der Industrienatur

Aus Schienen wurden Radwege, die Industriekathedralen blieben stehen. Die Schwerindustrie hat dem Revier nicht nur Arbeitslose und vergiftete Halden hinterlassen, sondern auch freie Flächen, auf denen sich nun nicht nur die Natur austobt. Klettern im Gasometer, Rad fahren im Industriepark

INDUSTRIEKULTUR

Die Europäischen Route der Industriekultur (European Route of Industrial Heritage, kurz: ERIH) bietet spannende und erlebnisreiche Einblicke in Arbeitswelten, Technikgeschichte und die Faszination Industriekultur. Aktuelle Hinweise sind zu finden unter www.erih.net. 52 Zeugnisse der industriekulturellen Vergangenheit und Gegenwart bilden die Route der Industriekultur im Ruhrgebiet. Dazu gehören überregional bedeutende Industrieanlagen ebenso wie von namhaften Architekten entworfene Arbeitersiedlungen, Museen oder Panoramen zur Geschichte der Region: www.route-industriekultur.de Der Landschaftspark Duisburg-Nord ist jederzeit bei freiem Eintritt begehbar: www.landschaftspark.de Der Ruhrtalradweg folgt auf kompletter Strecke dem Fluss, der eine ganze Region bis heute prägt: der Ruhr – von der Quelle bei Winterberg bis zur Mündung in den Rhein bei Duisburg, vom Sauerland in den Ballungsraum Ruhrgebiet: www.ruhrtalradweg.de Essen wird für das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas 2010. 150 Jahre Industriegeschichte haben dem Ruhrgebiet die heutige Struktur gegeben, es zu einem der größten europäischen Ballungszentren gemacht. Die Erlebnislandschaft „Ruhrgebiet“ ermöglicht eine vielseitige und interessante Entdeckungsreisen von der Geschichte über die Kultur bis hin zur Freizeitgestaltung. www.ruhrgebiettouristik.de Buchtipp: „Route der Industriekultur per Rad“. Herausgeber: Regionalverband Ruhr, Geoinformation und Raumbeobachtung Ringbuch mit 27 aufklappbaren Einzelkarten im Maßstab 1:50.000 und erklärendem Textteil. Ausgewählte innerstädtische Bereiche werden zusätzlich im Maßstab 1:20.000 dargestellt, 13,90 €

von ANNIKA JOERES

Die Industrie lebt wieder. In gelben Blüten auf Hochöfen, in wilden Birkenreihen auf Koksofenbatterien, in Hasenhorden auf Halden. Die Schwerindustrie im Ruhrgebiet hat jetzt, Jahrzehnte nach ihrem eingeleiteten Ende, eine einzigartige Landschaft hervorgebracht. Und für neue Tourismusziele zwischen Dortmund und Duisburg, die jedes Jahr Millionen von Gästen anziehen. Sie kommen nicht nur, um die neuen Kulturstätten, um europaweit einmalige Ereignisse wie die Ruhrtriennale oder um die Fässerwand von Christo im Oberhausener Gasometer zu bestaunen. Sie kommen auch, um eine besondere Natur zu erkunden. „Hier finden sie Pflanzen aus der ganzen Welt“, sagt Susanne Stahlschmidt. Die Biologin macht Industrienatur-Führungen auf dem Gelände der Kokerei Hansa in Dortmund. Ihr Weg führt hoch hinaus zum Kohleturm mit Panoramablick und zu den Ofenbatterien, in denen einst bei mehr als 1.000 Grad Steinkohle zu Koks gebacken wurde.

Nach der Stilllegung 1992 hat man die Anlage bewusst der Natur überlassen. Es kamen – Überlebenskünstler, die unter wüstenähnlichen Bedingungen leben können, in Böden, arm an Nährstoffen und an Wasser und so dunkel, dass sie sich im Sommer bis zu 60 Grad aufheizen. Das ist gut für exotische Arten: Über die vielen Transporte aus Afrika, Asien und auch aus Australien und Amerika konnten sie einwandern. „Sie finden hier auf einem Quadratmeter so viele Pflanzen aus aller Welt wie in keinem anderen Boden“, sagt Stahlschmidt. Denn nirgendwo sonst gibt es einen so dichten Gleis- und Güterverkehr, den heimlichen Schlepper seltener Samen und sogar kleiner Tiere wie der Ödlandschnecke aus Italien.

Die Schwerindustrie hat dem Revier nicht nur Arbeitslose und vergiftete Halden hinterlassen. Als in den 70er- und 80er-Jahren mehr als siebzig Industriegelände und ihre zugehörigen Gleisanschlüsse geschlossen wurden, hinterließen Koks und Stahl auch mitten in der Stadt viele freie Flächen. Gezwungenermaßen haben sich die Stadtplaner damals gegen Einkaufszentren und Büroparks entschieden – es war schlicht kein Geld für den Abriss da. So wurden aus Schienen Radwege und die Industriekathedralen blieben stehen. Der Emscherparkradweg führt heute mitten durch eine Metropolregion mit sieben Millionen Einwohnern – und kommt fast ohne Ampel und lärmende Straßen aus. RadfahrerInnen können auf erhöhten Trassen und durch Grünzüge vierhundert Kilometer weit fahren. Inspiriert wurde dieses Konzept auch von den Kanadiern. Das System „from rail to trail“ funktioniert hier in der dichten Stadtlandschaft ebenso gut wie in den Weiten Nordamerikas.

Auf der Radstrecke liegt auch der Landschaftspark Duisburg Nord. Ein Highlight der Internationalen Bauausstellung (IBA), die bis 1999 über die Zukunft der Hochöfen und Zechentürme bestimmt hat. Der Landschaftspark blieb, was er war: eine beeindruckende rostige Stahlkonstruktion mit siebzig Meter hohen Türmen. Abends verwandelt sie sich in eine rot-blau-grüne Lichtinstallation, die kilometerweit zu sehen ist. Tagsüber wurde der umgebende Park zu einem Erholungsgebiet für DuisburgerInnen und TouristInnen: Im Gasometer kann so tief getaucht werden wie nirgends sonst in Europa. TaucherInnen stoßen auf eine künstliche Unterwasserwelt, auf Korallen, versenkte Schiffe und Plastikhaie. In den ehemaligen Gießhallen wird heute geklettert: Der deutsche Alpenverein hat hier eine Übernachtungshütte aufgestellt. Dutzende Mauern mit unterschiedlich steilen Hängen können jederzeit bestiegen werden. Denn auch dies ist eine Besonderheit: Der Park kennt keine Öffnungszeiten. Jederzeit können die siebzig Hektar begangen und die Türme bestiegen werden, auch Grillen ist erlaubt.

Koks und Stahl hinterließen viele freie Flächen – auch in der Stadt „Wir haben vollzogen, was auf viele Industrieregionen noch zukommt“

Mittlerweile kommen auch viele ausländische Gäste, erzählt Christian Scholz, ein Führer des Parks. „Die Engländer staunen zuerst und suchen die Rosen“, sagt er. Viele würden unter einem Park eine angelegte künstliche Blumengarten verstehen. „Wenn sie aber die Anlage besichtigt haben, sind sie begeistert“, sagt Scholz. Denn nur wenige Industrieregionen lassen die Menschen so nah an die ehemals stampfenden und zischenden Maschinen heran, lassen sie neben korrosiven Rohren picknicken. Überall im Park wird das Regenwasser gesammelt und der Emscher zugeführt. Die ehemalige Kloake des Reviers soll in den kommenden Jahren aus ihrer Betonröhre befreit werden und wieder zu dem Naturfluss werden, der sie einmal war. Der Kohleabbau tief unter der Erde hat Anfang des vorigen Jahrhunderts unterirdische Abwasserkanäle unmöglich gemacht. Jetzt, wo nur noch sieben Zechen revierweit laufen, kann die Kloake wieder von der Oberfläche verschwinden. Schon jetzt führt der Radweg zum Teil an einer wilden Emscher entlang.

Michael Schwarze-Rodrian entwickelt seit 18 Jahren den Emscherlandschaftspark. „Unser Plan wird wie Software für Computer ständig aktualisiert“, sagt er. Zuerst hätten die Planer angenommen, die Landschaft müsse geheilt und repariert, in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Doch dann habe sich das Selbstverständnis gewandelt: „Wir haben hier eine andere, eine eigene Landschaft.“ So einzigartig, dass inzwischen zahlreiche Delegationen von Stadtplanern und Architekten aus der ganzen Welt das Ruhrgebiet besuchen. Besonders Londoner seien interessiert, sagt Schwarze-Rodrian. Sie stehen wie das Ruhrgebiet vor zwanzig Jahren jetzt vor der Aufgabe, ihren Osten entlang der Themse wieder bewohnbar zu machen – Vorbild könnte der Strukturwandel im Ruhrgebiet sein. „Wir haben schon vollzogen, was auf viele Industrieregionen der Welt erst noch zukommt“, sagt Schwarze-Rodrian. Die Zukunftswerkstatt aus Nordrhein-Westfalen wird aber auch zunehmend für Touristen interessant: Seit Jahren ist ihre Zahl gewachsen. Besonders die Radwege ziehen Hunderttausende an. Und große Firmen verlagern ihre Ausflüge gerne an die Ruhr: So schickte Microsoft kürzlich zweihundert Mitarbeiter auf eine Ralley durch den Landschaftspark in Duisburg. Ewig wird die Attraktion allerdings nicht halten: ExpertInnen schätzen die Lebensdauer der verlassenen Industriehallen auf höchstens 200 Jahre. Übrig bleiben werden nur die pflanzlichen Überlebenskünstler.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen