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Archiv-Artikel

GELBSÜCHTIGE CRACKHUREN SITZEN IN IHREN MIEFBUDEN UND DREHEN DIE AUGEN AUF KURZ VOR NULL Eine Win-win-Situation à trois

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Die Sonne scheint an diesem milden Novembertag. Es ist vermutlich das letzte Sonntagsfrühstück auf dem Balkon. Jedenfalls für dieses Jahr, und dann mindestens bis zum März des nächsten Jahres. Lachs, Pastete vom iberischen Schwein, Champagner, Wachteleier: alles da.

„Sie tun nur ihren Job“

Nach kaum einer halben Minute falle ich fast vom Stuhl: Tatütata, der erste Rettungswagen ist da. Ich habe noch nicht mal die Scherben zusammengefegt und kann gerade erst wieder Systole und Diastole voneinander unterscheiden, da biegt bereits der nächste um die Ecke. Was für eine Schweinerei! Anders kann, anders will ich das nicht nennen. Das ist doch Wahnsinn. Wie sollen sich die Leute hier erholen?

Tatütata! Boah, das reißt mich jedes Mal vor Schreck. Die halbe Auster hopst ungeschlürft in den Blumenkasten. Und nochmal: tatütata. Obwohl sie Grün haben, obwohl gar keiner im Weg ist – das machen die doch extra. Ich hasse diese Autos, und ich hasse ihre Fahrer. „Sie tun nur ihren Job“, wird jetzt wahrscheinlich wieder irgendein Idiot behaupten.

„Sie tun nur ihren Job“: Blöder geht’s nicht. Das hat im Land der Richter und Henker nun wirklich einen schlechten Klang.

Tatütata. Der nächste Arsch. Warum sind hier in der Gegend überhaupt so viele krank? Das ist ja nicht zum Aushalten. Erst rauchen sie und saufen, gehen niemals an die frische Luft und belästigen nun andere mit ihren Zusammenbrüchen. Wissen die überhaupt, wie sehr sie mich nerven? Schneiden die eigentlich noch irgendetwas mit? Garantiert ist denen gerade alles scheißegal. Statt auf sich achtzugeben, schiebt jeder die Verantwortung einfach auf die Gesellschaft und den Rettungswagen weiter. Das ist so asozial. Was sie mit ihrem Körper anstellen, ist ja ihre Sache. Solange sie damit nicht über Bande andere beeinträchtigen. Gesunden Menschen, die Ballaststoffe essen, joggen und in die Sauna gehen, das Sonntagsfrühstück vergällen. An der frischen Luft. Währenddessen sitzen diese gelbsüchtigen Crackhuren in ihren Miefbuden und drehen die Augen auf kurz vor null.

„Buhuhu“

Statt dass sie nun aber endlich mal das Fenster öffnen, zur Not vielleicht auch eine Aspirin nehmen, grapschen schmutzige Pfoten nach dem Hörer, und theatralisch brechende Stimmen rufen wehleidig den Notarzt an: „Buhuhu. Mir geht’s so schlecht. Ich bin so krank. Bitte, kommen Sie schnell, sonst sterbe ich.“ Ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie wären tot. Ein Leichenwagen fährt nämlich ohne Martinshorn. Ein Leichenwagen hat es nicht eilig. Der Patient hat es nicht eilig. Alle sind optimal entspannt.

Kurz habe ich fast ein schlechtes Gewissen und denke, dass ich so wahnsinnig viel besser als die Rettungswagenrowdys in diesem Moment womöglich auch nicht bin, da ich völlig fremden Menschen den Tod wünsche, nur um meine Nerven zu schonen.

Doch was heißt hier „nur“? Außerdem wäre es bestimmt einfach besser für sie. Sobald alle zwei Minuten der Krankenwagen um die Ecke lärmen muss, hat das doch alles keinen Zweck mehr. Dann quälen die sich offenbar nur noch. Die lauten Retter könnten im Grunde genauso gut zu Hause bleiben oder aber nur einmal kommen und die letzte Spritze setzen. Danach hätten sie Feierabend, die Kranken wären vom Schmerz erlöst und ich vom Krach. Eine Win-win-Situation à trois. Dem nächsten Einsatzfahrzeug proste ich von oben mit dem Champagner zu, den ich erst kürzlich für herausragende Leistungen geschenkt bekommen habe.