: Weddinger Sommermärchen
ZWISCHENNUTZUNG Ein paar leer stehende Hallen, sechs Kunstfreunde mit Unternehmergeist, ein Besitzer aus Mailand: Und plötzlich sind sie da, die Künstler von überall, die sich in Berlin zeigen wollen – im Mica Moca
VON JAN SCHEPER
Tony Martin ist ein ruhiger Typ. Entspannt sitzt er an einem alten hölzernen Gartentisch in der Vorhalle einer ehemaligen Tresorfabrik. Die alten weißen Backsteinwände des Gebäudes scheinen schwer zu atmen. Es hat den ganzen Abend geregnet. Als der gebürtige Londoner bedächtig zu erzählen beginnt, muss er sich gegen ein vielstimmiges freundliches Babel durchsetzen, das ihn umgibt. Zwischen den raumfüllenden Gesprächsfetzen aus Französisch, Englisch und Spanisch berichtet Martin vom nicht immer ganz einfachen Ankommen in Berlin, seinem jüngst begonnenen Tanzstudium und von einer Idee, die mittlerweile einen Großteil seiner Zeit in Anspruch nimmt. Die Idee, die ihn ein Stück weit an der Spree hat heimisch werden lassen, heißt „Mica Moca Project Berlin“.
Seit Mitte Mai stellt das sechsköpfige Organisationsteam von Mica Moca im Wedding überwiegend unetablierten Künstlern auf 6.500 Quadratmetern kostenlose Proben- und Aufführungsräume zu Verfügung. Tony Martin beispielsweise übt Stepptanz im dritten Stock eines Hinterhofgebäudes, der mal Sitz einer Tischlerwerkstatt war. Die gesamte Bandbreite reicht von Theateraufführungen und Performances bis zu Einzelausstellungen, Installationen und Konzerten. Etwa 70 Besucher kommen pro Veranstaltung. 60 Prozent der Einnahmen gehen an den oder die KünstlerInnen, 40 Prozent fließt in die Projektkasse.
Das unorthodoxe Modell des „Experimentellen Kultur Generators“, wie die Erfinder ihr Projekt nennen, fußt auf drei elementaren Komponenten: Raum, Zeit und Atmosphäre. So erklärt es der 43-jährige Jurist Christophe Knoch: Sein Weg als Kulturmanager führte ihn über mehrere deutsche Opernhäuser und das Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel bis an die Seite von Christoph Schlingensief. Knoch betreute bis kurz nach dessen Tod den Aufbau des Operndorfes in Burkina Faso. Er ist einer der geistigen Väter von Mica Moca.
S-Bahn-Fahrt mit Folgen
Den Raum hat Knoch gemeinsam mit dem Opernregisseur Frederic Wake-Walker,„zufällig bei Ringbahnfahren“ nahe dem S-Bahnhof Wedding im Dezember 2010 entdeckt: ein verlassenes Fabrikgelände an der Lindower Straße 22. Der Komplex umfasst drei Gebäudetrakte, zwei davon mehrstöckig, die in den letzten 60 Jahren einen Geldschrankhersteller, eine Bilderrahmenmanufaktur, eine Pelzreinigung sowie eine Installateurfirma beherbergten. Zu den historischen Industriehallen finden sich beim Bauamt Berlin-Mitte Aktennotizen über die „Erbauung eines Fabrikgeländes nebst Kesselhaus und Pferdestall“, datiert auf das Frühjahr 1873.
Knoch und Wake-Walker beschlossen, sich genauer zu informieren. Im Idealfall ließe sich hier vielleicht das ein oder andere unabhängige Kunstprojekt realisieren, ratterte es durch die Köpfe der beiden S-Bahn-Fahrer. Was folgte, ist eine Geschichte, die selbst in der Kreativhochburg Berlin glatt als Sommermärchen durchgehen kann: Der heutige Besitzer des historischen Fabrikareals, Mariano Pichler, ein Architekt aus Mailand, stimmte nicht nur einer Besichtigung zu, sondern befürwortete überraschenderweise eine kostenlose Nutzung von März bis September 2011. Danach hat er andere Pläne. Damit war der Zeitraum möglicher Projekte klar abgesteckt. Die zweite Komponente auf der Ideenliste war abgehakt.
Die einzige Bedingung des Mailänders, dem die Lindower Straße 22 ihren heutigen Namen Mica Moca verdankt, beschränkte sich auf die Übernahme der Versorgungskosten – sprich: Strom und Wasser. Eine große Erleichterung für die folgenden Planungen. „Für uns war das ein extremer Moment der Freiheit“, sagt Christophe Knoch und Albrecht Sprenger ergänzt, „denn wir wussten nun, dass wir vieles umsetzen können, aber nichts umsetzen müssen“. Der Gastronom Sprenger ist ebenfalls Mitglied des Orga-Teams und verbringt fast seine gesamte Freizeit bei Mica Moca. Verträge wurden gemacht, Behördengänge erledigt.
Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit war – angesichts der begrenzten Mittel des Projekts – von Anfang an erstaunlich groß, ganz gleich, ob im Baudezernat oder beim Brandschutzbeauftragten des Bezirks, „nach dem Motto: Denkt nicht ans Geld, wir helfen euch“, berichtet Knoch. Der Weddinger Bürgermeister Christian Handke (SPD) freut sich über „die Kooperation unterschiedlichster Kunst- und Kulturschaffender, die ein lebendiges und genreübergreifendes Programm quasi aus dem Nichts aufstellen“.
In der Tote Tauben Bar
Auch die Nachbarschaft reagierte positiv auf die Ästheten im Industriegewand. Ein angrenzender Großküchenausstatter spendete spontan eine Gefriertruhe. Ein Berliner Kaffee-Label sponserte die Espressomaschine, die im Gemeinschaftsraum, der „Tote Tauben Bar“, in der zurzeit urbane Porträts des Berliner Fotografen Chris Keller zu sehen sind, unaufhörlich surrt. Bei knapp 60 Veranstaltungen in den letzten zwei Monaten, den Probenbetrieb nicht mitgerechnet, ist dass kein Wunder.
Bei so viel Euphorie und Zuspruch braucht es dennoch „klarer Absprachen zwischen Koordinationsebene und Einzelprojektleitung“, sagt der Eventmanager Christian Anslinger. Damit wäre die dritte Komponente im einfachen, aber stimmigen Gesamtkonzept des Mica-Moca-Projekts kurz umrissen. Der studierte Politologe Anslinger kümmert sich von Beginn an um die Webpräsenz und die Vermarktung von Mica Moca und nutzt alle ihm zur Verfügung stehenden Kanäle, ob Facebook oder die eigene Netzwerkkartei.
Vor Kurzem drehte ein großer Mobilfunkhersteller auf dem Dach der „Kathedrale“, wie das Gebäude zur Straßenseite wegen eines geschwungenen Treppenhauses genannt wird, einen Werbespot. Anslinger hat sich dort im ersten Stock ein Büro eingerichtet, inklusive Feldbett. Die Anfragen und Projektvorschläge, die oft auch aus dem Ausland kommen, liegen pro Tag aktuell in einem zweistelligen Bereich – Tendenz steigend.
Am vergangenen Wochenende waren sämtliche Räume der Anlage an der Lindower Straße demzufolge ausgebucht und mit etwa 250 Kunstinteressierten gut besucht. Neben einer großen Ausstellung verschiedener Arbeiten des multinationalen Künstlerkollektivs Playground Berlin um das Kuratorenteam des Kunstraums Richard Sorge und der brasilianischen Choreografin Marcela Donato, folgte die musikalisch-poetische Gruppe Lustwandeln, dann erhellten die Projektionskünstler von tagtool den Hinterhof. Tony Martin sagt am späten Sonntagabend, er hoffe, dass die Mica-Moca-Idee auch nach der Schließung im Oktober weiterlebt, dabei machen seine sonst so ruhigen Gesichtszüge einem breiten Lächeln Platz.
■ Aktuelles Programm unter www.micamoca.com