Der Regent in Unterhose

PREMIERE König Lear bestreitet in der Shakespeare Company als hinreißend Verwirrter einen dichten Theaterabend. Eine nüchterne Familienkrise ersetzt düsteres Schicksal

Das Übernatürliche erscheint als Ausgeburt des Wahns – immer irgendwie präsent, aber nur Akzentuierung eines sehr weltlichen Elends

VON JAN-PAUL KOOPMANN

Sie müssen einem einfach leid tun, die bösen Töchter König Lears. Denn selbst, wenn er sie in Unterhose über die Bühne kriechend tyrannisiert, bleibt ihr Vater doch hinreißend sympathisch. Ohne Krone und Tamtam verkörpert Erik Roßbander den altersschwachen Regenten als ehrfurchtgebietende Autorität.

Dabei wollte er die Macht doch eigentlich aus der Hand geben, so der Aufhänger von Shakespeares Tragödie. Er will sie seinen drei Töchter überlassen – in Anteilen, die ihrer Liebe zum Vater entsprechen. Während sich die ersten beiden im eingeforderten Liebesbeweis überschlagen, schweigt die jüngste demütig. Lear erkennt ihre Ehrlichkeit nicht, verstößt sie, weil er dem Schein schöner Worte erlegen ist.

Die Sprache ist im Stück durchweg trügerisch. Lügen und Briefe mit gefälschten Absendern bringen das Reich gar an den Rand der Zerstörung. Katastrophen, die sich abwenden ließen, wenn man miteinander sprechen könnte. Wo die Möglichkeit von Kommunikation so grundsätzlich verneint wird, bleibt nur der psychologische Blick ins Innere.

Und den fixiert Regisseur Bernd Freytag inmitten der sonst schwarzen Bühnenlandschaft als einen schlichten weißen Kreis. Ein Spotlight, das die Umwelt ausschließt und den Schauspielern Raum lässt, die unfeinen Züge ihrer Charaktere zu entwickeln, ohne sie zu überzeichnen. Das gilt besonders für den unschwer als demenzkrank zu lesenden König: Man mag ihn sich als häuslichen Pflegefall vorstellen, als ein solcher vorgeführt wird er aber nicht.

Freytag versteht es, die Konstellationen einer zerrütteten Familie aus dem schicksalsschweren Stoff zu bergen. In seiner geschickten Choreografie der Auf- und Abtritte entfalten sich die Intrigen, Zerwürfnisse und Bündnisse. Das funktioniert auch deshalb so überzeugend, weil die gesamte Besetzung aufmerksam zusammenspielt.

Von den Rändern her scheint Shakespear’sches Zauberwerk auf. In jener Schicksalsnacht etwa, die Lear vor den Toren im Sturm verbringt. Vom Wahnsinn, Geistern und allerlei Teufeln geplagt, irrt er in Begleitung seines Narren umher – eine gespenstische Figur, die Tobias Dürr mit tänzerischer Unwirklichkeit verkörpert. Masken hängen an seinem Gürtel, deren Münder sich in der Bewegung tonlos plappernd öffnen. Das Übernatürliche erscheint als Ausgeburt des Wahns – immer irgendwie präsent, aber nur Akzentuierung eines sehr weltlichen Elends. Und das vermag es tatsächlich, ein mehr als zwei Stunden langes, ausgesprochen dichtes Bühnengeschehen zu tragen.

Die heimlichen Heldinnen sind im Grunde alltägliche Figuren: Zwei überforderte Geschwister, die sich den Launen des Vaters im Tausch für ein Erbe aussetzen, während die unschuldige Dritte in der Ferne weilt. Dass da nebenbei ein Königreich zerfällt, ist eine Randnotiz. Lear nimmt Krone und Zepter als Insignien der politischen Macht erst wieder in die Hand, als alles vorbei ist und er als glücklich seniler Alter bei der Lieblingstochter sitzt: Sein kleines Happy End zwischen Leichen.

Nächste Aufführungen: 29. November sowie 5., 20., 30. Dezember, 19.30 Uhr, Theater am Leibnizplatz