: 70 Minuten Widerstand
Ulf Alberts Dokumentarfilm „im öffentlichen interesse“ ist ein Mahnmal der Spaltung Neuenfeldes durch die Verlängerung der Airbus-Landebahn für den A 380. Am Samstag, eine Woche vor Eröffnung der neuen Piste, zeigte er ihn erstmals den Bewohnern des Dorfes am Elbdeich
VON JAN FREITAG
Serpentinen führen gemeinhin durchs Gebirge. Sie durchschneiden Berge wie Schlangen den Sand und führen kurvenreich über die denkbar größten Hindernisse. Hier aber, auf dem langen Weg von Finkenwerder nach Neuenfelde, verlaufen die gewundenen Straßen zu ebener Erde und enden irgendwo im Nirgendwo, zwischen Obstbäumen, Signalmasten und einem tief zerrissenen Dorf. „Fürchterlich“, sagt die Frau von der anderen Elbseite, „ich kenne mich hier gar nicht mehr aus.“
Vor drei Jahren ist sie fortgezogen aus dem Südwesten Hamburgs, rein in die Stadt. Nicht gerade wegen der Landebahn, aber doch gerade noch rechtzeitig vor ihrer Verlängerung. Mit ihr frisst sich Europas größter Flugzeugbauer Airbus ein Stückchen tiefer hinein in Deutschlands Apfelgarten, das Alte Land. Sie hat alles umgewälzt, jenseits des Deiches. Die Baumkuppen ganzer Waldstücke wurden abrasiert wie reifer Weizen, überall stehen Zäune, Hallen, Flugzeuge, Landmarken der Industrie. Und jetzt fährt Annett Schuster also zum ersten Mal seit langem daran entlang, vorbei an ihrem alten Haus Richtung Neuenfelde, um das bislang beeindruckendste Zeugnis seiner Veränderung zu sehen: Einen Dokumentarfilm über Neuenfelde, den ersten in abendfüllender Länge. Er heißt „im öffentlichen interesse“ und dokumentiert den Weg vom Scheitern zum Triumph und wieder zurück – den aussichtslosen Kampf einfacher Landmenschen mit dem multinationalen Konzern, der selbst ins Straucheln geriet.
Es herrscht nicht gerade die Atmosphäre großer Filmpremieren, hier auf dem Obsthof Ecks am Dorfrand, fast in Niedersachsen. Auf kleinen Partytischen stehen Chips in schlichten Schalen, hausgemachter Kümmelschnaps kostet einen Euro, das Bier vom Fass die Hälfte mehr und zwischen Filmcrew, Protagonisten, Förderern lugt manch alte Bauernmütze aus den 120 Gästen hervor. Alles andere – Prominente, Honoratioren, zahlende Gäste – wäre auch fehl am Platze, findet Regisseur Ulf Albert. Die Vorführung in der Scheune sei schließlich keine offizielle Uraufführung, auch wenn der Film noch nie zu sehen war. Sie ist eine Art Danksagung an einen Menschenschlag, den der Hamburger Filmemacher mehr kennt, seit er einst aus Oldenburg fortging: erdverwurzelt, bodenständig, heimatverbunden.
Sie dürfen den siebzigminütigen Streifzug durch die Geschichte ihres Widerstands als Erste begutachten. „Das haben wir von Anfang an zur Grundvoraussetzung gemacht, um bei dem Projekt überhaupt mitzumachen“, wird eine von ihnen, Gabi Quast, im Anschluss sagen. Sie hat die Hauptrolle, im Film wie in der Realität. Sie war die Sprecherin des Schutzbundes Neuenfelde, sie stand jahrelang in vorderster Front gegen die Expansionspläne des Flugzeugbauers, sie federte die vom Schutzbund immer wieder kritisierten „Lügen“ der Bild-Zeitung ebenso ab wie die Sorgen vor Ort, die Kritik verkaufswilliger Nachbarn wie die Klagen ihrer eigenen vernachlässigten Familie. Sie war so etwas wie der dörfliche David im Ringen mit einem industriellen Goliath. Sie hat es verloren, nicht aber ihre Kampfkraft. In einer Woche wird das neue Ende der nunmehr fast dreieinhalb Kilometer langen Werkslandebahn fürs größte Verkehrsflugzeug der Welt – den A 380 – eröffnet, doch nur weil sie nun unwiderruflich 589 weitere Meter in ihr Dorf hineinragt, ist Gabi Quast längst noch nicht fertig mit Airbus, dem Gegner, nicht dem Feind, wie sie stets beteuert. „Es sind ja noch viele Klagen dagegen anhängig“, beteuert die energische Frau vor einer Wand aus Obstkisten, als wäre sie nicht Bäuerin, sondern Rechtsgelehrte. „Wir gehen zur Not bis vors Verfassungsgericht.“ Denn die Landebahnverlängerung, das zeigt „im öffentlichen interesse“ einzig durch die Stimmen der Betroffenen oder Verantwortlichen, war stets ein dubioses Projekt. Politisch gewollt, juristisch umstritten, medial flankiert, deichrechtlich verboten, betriebswirtschaftlich vage und ökologisch desaströs. „Ich hab gehört, 93 Hektar werden jeden Tag versiegelt, nur in Deutschland“, sagt ein Obstbauer zu Beginn des Films beim Umgraben des fruchtbaren Urstromtals der Elbe und rechnet vor: „Das heißt, im Jahr viertausendirgendwas wächst hier kein Grashalm mehr“. Er lächelt traurig und gräbt weiter. Es ist totenstill in der Obsthalle, als Szenen wie diese laufen. Leises Schniefen, als eine Neuenfelderin beim Gedanken an den Verkauf ihres Landes in Tränen ausbricht. Höhnisches Gelächter, als der ortsansässige Bauernverbandsvize sagt, in Neuenfelde sei die Welt doch noch in Ordnung. Es gibt herzlichen, aber nicht donnernden Applaus, als der Film beendet ist. Airbus hat das Dorf gespalten. Das Werk machte jene, die ihr Land für Millionensummen verkauft haben, zu Verrätern, und jene, die sich weigerten, zu Dissidenten. Im Film bittet der Dorfpastor darum, doch lieber insgesamt von Opfern zusprechen. Nach der Vorführung blinzelt Gabi Quast scharf durch ihre Brille: „Das sehe ich ein bisschen anders“, sagt sie und meint damit Leute, „die sehr bewusst aufs Geld aus waren“.
Von den einen wie den anderen seien viel zu wenige zur Vorführung gekommen, klagt Ulf Albert am Ende. Die Dorfbewohner haben sich rar gemacht – trotz des schönen Wetters, obwohl überall plakatiert war und die Filmvorführung ins sonntägliche Kulturfest von Neuenfelde eingebunden war. Aber er kann es auch verstehen. Zu frisch sind die Wunden, zu offen die Fragen, zu ungewiss die Zukunft.
Wenn der Film im Herbst über die internationalen Festivals tourt, wird der A 380 in Hamburg weiter nur eine Option sein, eine hoch subventionierte Hoffnung auf Jobs und Steuern und Renommee und eingehaltene Versprechungen. Noch während der Bauarbeiten zur Startbahn-Verlängerung platzte die Nachrichtenbombe von Lieferproblemen bei Airbus. Plötzlich war der Standort Hamburg bedroht und statt von 4.000 neuen Arbeitsplätzen war vom Abbau bestehender die Rede.
Die Schadenfreude hält sich auf dem Obsthof in Grenzen. Niemand, versichern die Gegner im Film und nach seiner Vorführung immer wieder, habe was gegen Airbus selbst. Seit 1932 werden an gleicher Stelle Flugzeuge gebaut. Ihre Landebahnen ist man hier gewohnt und auch den Lärm ertrugen die Anrainer stets klaglos. Zumindest, solange er von berechenbarem Nutzen war und nicht bloß Signal der Politik zum industriefreundlichen Strukturwandel.
Der Film könnte sein Mahnmal sein. Das sehen viele Anwesende ähnlich und stecken den einen oder anderen Geldschein in die aufgestellten Spendenboxen. Über drei Jahre Arbeit stecken im Film. Brotlose Jahre, selbst wenn er am Ende Preise ernten und im Fernsehen laufen sollte. Sachfilmen ist eine Frage von Leidenschaft, Selbstausbeutung und Anteilnahme. „Am Anfang hab ich nur eine spannende Geschichte gesucht“, erinnert sich Ulf Albert an 2004, vier Jahre nach dem Planungsbeginn für die Landebahnverlängerung. Mit der Zeit wurde er mehr und mehr zum Betroffenen, auch deshalb nimmt „im öffentlichen interesse“ eine konsequent parteiische Haltung ein. Die Leute hier, fügt er hinzu, „sind mir wirklich ans Herz gewachsen“.