: Verschwörung
Heinrich Steinfest ist natürlich weit entfernt davon, an Verschwörungstheorien zu glauben. Aber dass die Magistrale Paris–Budapest dazu dienen könnte, den Sondermüll von West nach Ost in aller Eile zu transportieren – das hat ihn doch nachdenklich gemacht
Der Schriftsteller Heinrich Steinfest ist in Wien aufgewachsen und lebt heute vorwiegend in Stuttgart, wo er genug Anregungen für seine Bücher findet. Die Umtriebe um Stuttgart 21 etwa bündelte er in seinem aktuellen Roman „Wo die Löwen weinen“, den man auch als Krimi lesen kann
von Heinrich Steinfest
Ein vereinfachtes Bild der Realität.“ So wird in der Zeitschrift Psychologie heute die Verschwörungstheorie „im engeren Sinne“ bezeichnet. (Richtig, ich bin einer dieser Beim-Zahnarzt-Sitzer, die ihre bangen Minuten des Wartens mit dem Genuss solcher Bildungsmagazine zu neutralisieren versuchen. Man könnte auch sagen, der Konsum derartiger hochglänzender Druckschriften stelle eine Art Teufelsaustreibung dar. Während das Lesen der meisten Tageszeitungen eher zu einer Teufeleintreibung führen dürfte.)
Keine Frage, aufgeklärte Menschen beschreiben Verschwörungstheorien als geistige Manöver, um „Erklärung für schwer verständliche Ereignisse oder einen Sündenbock für bedrohliche Geschehnisse zu finden“. Die Autorin Christine Amrhein definiert als wichtigsten Auslöser solcher abergläubischen Gespinste die Anomie, „eine Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Strukturen, die Verunsicherung nach sich zieht“. Und zitiert Marina Abalakina-Paap, bei der es heißt: „Die Betroffenen neigen möglicherweise deshalb dazu, an böswillige Mächte zu glauben, weil sie sich so von Schuldgefühlen entlasten und ihr Selbstwertgefühl stärken können.“
Aha, wir benötigen also eine Vorstellung von schurkischen Figuren, um von der eigenen Schurkenhaftigkeit abzulenken. Wir erfinden in wahnhafter Weise Geheimzirkel und Logen und Schatteneliten und Geheimdienste, um den eigenen Sehnsüchten nach Verbrechen und Weltherrschaft zu begegnen.
Zum besseren Verständnis listet besagter Artikel in einem Anhang die bekanntesten Verschwörungstheorien auf, etwa die, es existiere unterschwellige Werbung. Oder jene, nach welcher die USA gar nicht auf dem Mond waren oder wegen des Öls 2003 im Irak einmarschiert seien, um dann ja auch keine Massenvernichtungswaffen, sondern eben Öl zu finden. Oder dass die Pharmaindustrie die Verbreitung längst entwickelter, überaus heilsamer Medikamente verhindere und die Automobilkonzerne innovative, benzinunabhängige Motoren unter Verschluss halten würden.
Nun, wie verrückt, wie sehr von eigenen Schuldgefühlen geleitet und wie krankhaft von politischen Ressentiments bestimmt muss man sein, um solche Dinge zu glauben? Wie stark von gesellschaftskritischen Reflexen infiziert, um einen angeblichen Verteidigungskrieg als einen tatsächlichen Angriffskrieg zu erkennen? Wie heillos von romanhaften Fiktionen beeinflusst, um den beliebten Einzeltätertheorien zu misstrauen und staatsterroristische Manöver hinter bestimmten Attentaten zu vermuten? Wie rundweg von einem Hass auf die Bauwirtschaft erfüllt, um überzeugt zu sein, dass mafiose Strukturen nicht allein in Italien und fernen Bananenrepubliken vorherrschen? Wie verbockt, wie unbelehrbar von linker Gesinnung und dem artistischen Bedürfnis nach Schwarz-Weiß-Malerei verblendet, sich geheime Treffen vorzustellen, bei denen Überlegungen angestellt werden, die politischen Mandatsträger an die Kandare zu nehmen, um absolutistisch gefällten Entscheidungen eine demokratisch duftende Legitimation zu verleihen? Weil nämlich die Demokratie in erster Linie über Duftstoffe transportiert wird. Mehr ein Parfüm als ein System.
Ein Rembrandt namens Magistrale
Es ist nun nicht weiter überraschend, dass auch der virulente S-21-Komplex diverse Verschwörungstheorien nach sich gezogen hat, wobei die massivste lautet, die Bahn hätte ihre Vertragspartner über die tatsächlichen Baukosten und Baurisiken nicht im Unklaren gelassen, sondern vielmehr ausführlich informiert, und man sei in der Folge unisono darangegangen, die Zahlen herunterzureden und die Gefahren herunterzudichten. Was also bedeuten würde, dass die politischen Akteure (zumindest die Unterzeichner der Verträge) keineswegs von der Bahn betrogen worden seien, sondern sich absichtsvoll an der „Fälschung“ des Bildes beteiligt hätten. Somit zur gleichen Zeit Produzent und Käufer eines Rembrandts wären, der keiner ist. Einer der Titel des „Rembrandts, der keiner ist“, lautet: Magistrale.
Vor Kurzem wurde ich von einem Herrn angesprochen, der mich mit dem Argument, ich sei doch Schriftsteller und dürfe gewissermaßen alles schreiben, auf eine Theorie bezüglich jener sagenumwobenen Magistrale aufmerksam machte. Seinen Namen wollte er keinesfalls erwähnt wissen. Keine Frage, die meisten Verschwörungstheoretiker weisen paranoide Tendenzen auf .
Die sogenannte Magistrale für Europa, also die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Paris und Budapest, gibt vielen ein Rätsel auf. Hier sollen 35 Millionen Einwohner und rund 16 Millionen Beschäftigte aus vier Staaten miteinander verbunden werden.
Schon klar, man plant, die Menschen zu beschleunigen, „dichtere Zugfolgen im Taktverkehr, neue Direktverbindungen und höheren Komfort“ zu schaffen und solcherart die Bahn konkurrenzfähig zu machen. Allerdings ist es ja so, dass selbst beschleunigte Menschen – gleich ob Angestellte, Grundschüler oder Querschnittsgelähmte in ihren schnittigen, paralympicsgerechten Rollstühlen – in erster Linie mit den oft surreal anmutenden Bedingungen eines Nahverkehrs konfrontiert sind. Also damit beschäftigt, diverse Barrikaden der Peripherie oder Provinz zu überwinden und in nächstgelegene Orte, Schulen und Ballungszentren zu gelangen. Und dabei ganz sicher nicht mit dem Rest des Kontinents verbunden werden.
Um wen geht also? Etwa um Leute, zum Beispiel Opernregisseure, die zwischen Paris und Salzburg pendeln? Und die, wenn wieder mal die Fluglotsen streiken, auf einen schnellen Zug umsteigen müssen. Klar, mancher Spötter meint, dass wer früher an einem Ort anzukommen gedenke, eben früher losfahren solle. Doch dieses Argument läuft bei Opernregisseuren ins Leere eines stets vollen Terminkalenders. Trotzdem, selbst die Befürworter wirtschaftsbelebender Großbauprojekte schmunzeln ob der Argumentationsschiene der Magistrale-Betreiber, demgemäß es in Zukunft den Menschen der betroffenen Völker leichter fallen würde, dort zu arbeiten, wo es ihnen am besten gefällt. Wo? Etwa im schönen Salzburg?
Nein, die Gründe für die Magistrale – und zwar tatsächlich in ihrer geradlinigen Gesamtheit – müssen andere sein.
Jener namenlose Verschwörungstheoretiker fragte mich, ob mir bekannt sei, dass der US-Konzern Holtec beauftragt worden sei, in Tschernobyl ein Atommüll-Endlager zu errichten, und zwar mit Geldern, welche von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung verwaltet werden.
Nein, wusste ich nicht. Wobei man als Zyniker nicht umhinkommt, sich Tschernobyl als absolut ideal für ein Endlager vorzustellen. Etwa im Unterschied zur lieblichen Mozartstadt, die ja immerhin in einem Staat liegt, der nicht mal über ein aktives Atomkraftwerk verfügt. Die Franzosen freilich schon. Aber sind wir doch ehrlich, es sind Schätze, die man im eigenen Gartenboden gelagert wissen will, nicht Leichen. Das Vergraben von Leichen auf dem eigenen Grundstück führt in der Regel zu einer Aufklärung des Verbrechens. Und dazu, dass der Verbrecher als Trottel dasteht.
Könnte es also tatsächlich sein, dass der tiefere Sinn der Magistrale weniger in einer Beschleunigung von Personen als in einer Beschleunigung von Abfall begründet liegt? Abfall, den wir in Zukunft aus dem west- und zentraleuropäischen Bereich Richtung Osten auszulagern versuchen? Nicht nur nach billigen Arbeitsplätzen Ausschau haltend, sondern auch nach „Friedhöfen“ unserer Energieproduktion, sodass der Werbespruch der Unterstützer-Initiative, die Magistrale diene „als Verteiler für den zunehmenden Gütertransport von und nach Südosteuropa“ eine neue Bedeutung erhielte. Somit der eigentliche antipodische Punkt zu Paris nicht Budapest wäre, sondern Kiew.
Es mag natürlich sein, dass die Zeit, die man auf der offiziellen Magistrale gewinnt (um die 30 Prozent, auf einigen Teilstrecken angeblich sogar über 50), sodann auf der inoffiziellen Strecke Budapest–Kiew wieder verloren geht, aber das macht nichts, da es ja gilt, den Müll so rasch wie möglich aus dem heiklen Frankreich und dem noch viel heikleren Deutschland hinauszubekommen. Siehe Stuttgart, wo manche nicht begreifen wollen, wie unpraktisch Köpfe sind und wie praktisch Därme. Derartige Proteste sind in der Ukraine wohl nicht zu befürchten. Dort haben die Leute andere Probleme. Was ja viele Kommentatoren dem verachteten, wohlstandssatten Stuttgart gern wünschen würden: ukrainische Verhältnisse.
Verschwörungstheorien tragen immer etwas Lächerliches und Groteskes in sich, oft auch Unwissenschaftliches und notgedrungen Spekulatives. Sie dokumentieren in jedem Fall einen Wahn. Die Frage ist nur, ob dieser Wahn dem Theoretiker oder der Verschwörung zuzuordnen ist. Was an der „Theorie“ so grotesk erscheint, mag ja möglicherweise einer grotesken (und unwissenschaftlichen) Wirklichkeit zu verdanken sein. Dinge, die so abartig erscheinen, dass wir sie ins Reich der Fantasie verbannen, um uns zu schützen.
Das Problem: Die Pathologie der Wirklichkeit
Es spricht einiges dafür, dass eine groteske Wirklichkeit auf den Betrachter abfärbt. Der Wahnsinn, die Besessenheit vieler „Theoretiker“ muss nicht unbedingt in erster Linie deren Labilität kennzeichnen, sondern kann als ein Spiegel jener Dinge gelten, die sie erkannt oder gar geschaut haben. Die Pathologie der Wirklichkeit überträgt sich auf den, der die Wirklichkeit untersucht.
Das ist das Problem. Die Wirklichkeit ist verseucht. Daraus resultiert auch das Bedürfnis gar nicht so weniger S-21-Gegner, sich nicht mehr oder nicht mehr so intensiv mit dieser Sache beschäftigen zu wollen. Sie fürchten, infiziert zu werden. Sie fürchten, ob der im Untergrund zu erahnenden und nach und nach ans Tageslicht tretenden Verrücktheiten selbst verrückt zu werden.
Die Lösung ist ganz klar. Abwarten! Die Jahre ins Land ziehen lassen und später mal darauf hinweisen, dies alles – jeden Teil der Katastrophe, jeden Aspekt der Verschwörung – vorausgesehen zu haben. Um sich dann freilich von seinen Kindern oder Enkeln fragen lassen zu müssen, wieso man nicht mehr unternommen habe, mehr als das bisschen Demonstrieren, wenn doch so klar gewesen wäre, wohin das alles führt. Das alte Spiel der Generationen.
Nun gut, immerhin werden wir dann über eine Magistrale verfügen und unsere Opernregisseure und unseren Sondermüll im Eiltempo durch Europa transportieren. Und vielleicht wird diese Magistrale noch sehr viel tiefer und weiter in den Osten vorstoßen.
Wie viele Opernhäuser stehen in Sibirien?