LEUCHTEN DER MENSCHHEIT WOLFGANG GAST : Die Stasi, Aids und neue Aktenfunde
Es ist eine der hartnäckigsten Verschwörungstheorien: Die Immunschwächekrankheit Aids ist ein Abfallprodukt der US-amerikanischen Biowaffenforschung. Wer’s nicht glaubt, der nehme eine beliebige Suchmaschine und verwende die Suchbegriffe „Detrick“ und „Aids“: rund hunderttausend Treffer bei Google; Bing meldet 30.300. Detrick steht für ein geheimes Forschungslabor im US-Bundesstaat Maryland.
Wir schreiben das Jahr 1987. Auf höchster Ebene verständigen sich der sowjetische Geheimdienst und das Ministerium für Staatssicherheit auf eine Desinformation der besonderen Art: Der Eindruck soll erweckt werden, dass das tödliche Aids-Virus im Genlaboratorium der militärwissenschaftlichen Forschungseinrichtung Fort Detrick hergestellt worden war. 1977, so die Legende, sei er dann über Versuchspersonen an die Öffentlichkeit gelangt und habe anschließend die weltweite Katastrophe ausgelöst. Die Version, man ahnt es, wird dankbar aufgenommen – traut doch insbesondere die dogmatische Linke den Vereinigten Staaten und der CIA nahezu jede Schweinerei zu.
Zunächst greift der Ostberliner Professor Jakob Segal die von der Stasi beförderte Theorie auf. Der in der DDR gegängelte Schriftsteller Stefan Heym sorgt anschließend durch ein sensationsträchtiges Interview mit Segal in der taz dafür, dass die Aids-Lüge weit verbreitet wird. Die Debatte um die Segal-Theorien wird heftig geführt. Es dauert Monate, bis sich die renommierten Aidsforscher durchsetzen können, die von Anfang an Segals Theorie als absurd bezeichnet hatten.
Es entstand ein Zyklus von Falschinformationen, der bis weit über das Ende des Kalten Krieges hinaus andauert. So kommt es dazu, dass Segals „Forschungsergebnisse“ in Zeitungen und Dokumentarfilmen in der BRD und vielen weiteren westlichen Ländern thematisiert und verbreitet wurden und bis heute am Leben erhalten werden.
Selbst als 1992 der Chef der russischen Aufklärung, Jewgeni Primakow und die Stasi-Offiziere Günther Bohnsack und Herbert Brehmer die Existenz der Desinformationskampagne bestätigten, wurden die Gerüchte in Europa weiterhin am Leben gehalten. Die Segals inszenierten sich als „Aids-Dissidenten“ und ihre Theorien wurden weiterhin in Literatur, Film und sogar Rap-Gesang propagiert.
Links- und Rechtsextremisten machen heute noch Gebrauch von der Fort-Detrick-These, wie eine gerade erschienene neue Studie der Historiker Douglas Selvage und Christopher Nehring nachweist („Die Aids-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die Desinformationskampagne des KGB“, BSTU). Auf der Grundlage neuer Funde im Archiv der bulgarischen Staatssicherheitsdienste und im Archiv der Stasiaktenbehörde konnten die Autoren nachvollziehen, dass die „HIV-Verschwörung“ auf die Geheimdienste der Staaten des Warschauer Paktes zurückgeht.
Vor vier Jahren veröffentlichten frühere hochrangige Stasi-Offiziere im Verlag Edition Ost das Buch „Fragen an das MfS“. Zur HIV-Verschwörung schrieben sie darin: „Eine Ente in jeder Hinsicht“. Der „Kron- und überhaupt einzige Zeuge“ für die Story, schimpften die Verfasser, habe für Bares „stets Unerhörtes mitzuteilen“. Nach Selvages und Nehrings neuen Aktenfunden im bulgarischen Stasinachlass teilte aber auch die Stasi den Kollegen in Sofia Unerhörtes mit: „Die aktive Maßnahme zur Diskreditierung der USA unter Nutzung der Aids-Problematik wird weiterhin erfolgreich durchgeführt … Es ist beabsichtigt, die Maßnahmen zu Aids weiterzuführen und sie noch zielgerichteter gegen die aggressivsten Kreise des Monopolkapitals der USA auszurichten.“
■ Der Autor ist Redakteur der taz