: Jürgen Kindel
Später Nachruf auf einen Unbeugsamen
VON GABRIELE GOETTLE
Dieser Nachruf gilt einem, der bereits zu Lebzeiten tot war, sozial tot. „Sie können mich Jürgen Jonas nennen, Jonas, der im Bauch des Walfisches sitzt“, sagte er bei unserer ersten Begegnung. Ich möchte noch einmal an diesen ungewöhnlichen Menschen erinnern, an diesen Jürgen Jonas, der eigentlich Kindel hieß. Er hatte sich in die Idee verrannt, ohne Heim und Habe auf der Straße überleben zu können. Tatsächlich lebte er 14 Jahre ohne jedes Obdach in Berlin-Dahlem. 14 Winter verbrachte er im Freien und ihm ist dabei keine einzige Zehe abgefroren, nur eine kleine Erfrierung hatte er mal, gab er zu, die war erst schwarz und mit der Zeit wurde sie wieder hell. Seither trug er Schuhe im Schlafsack. Ernährt hat er sich von geschenktem Brot, Reis, Nudeln, Gemüse, ab und zu etwas Fleisch, von Nüssen im Herbst und wild wachsendem Obst und Gemüse, von Kaffee, Tee, Wasser und Wein. Er sagte von sich: „ Ich habe wirklich großes Talent zum Obdachlosen, zum Überleben ohne jeden Wohnsitz. Ich brauche keine Tür und kein Fenster. Möbel interessieren mich nicht – ich lebe hier ganz gut zwischen den Stühlen.“
Es war eigentlich unvorstellbar, dass er nachts bei minus 10 oder auch 15 Grad in der kleinen Grünanlage neben der Bushaltestelle „Museen Dahlem“ lag. Er schlief unter zwei kräftigen Eibensträuchern, voll bekleidet, eingehüllt in feuchte, schmutzige Schlafsäcke, auf dem Kopf eine speckige Wollmütze, über sich einen alten Sonnenschirm gegen Regen und Schnee. Für sich und sein schrottreifes Fahrrad beanspruchte er knapp 3 Quadratmeter öffentlichen Grund und Boden. Darauf war er zu Recht stolz: „Ich lebe auf kleinstem Raum, bin total umweltfreundlich und ich habe keinen Motor. Für nichts! Nicht mal Besteck benutze ich, schon gar nicht aus Plastik. Nur meinen Wein, den trinke ich aus dem Becher. So viel Kultur muss sein!“ Aber davon mal abgesehen, seine unmissverständlich krasse Existenzform befreite ihn zuverlässig von den üblichen Normen des Verhaltens.
Jedes Jahr im November, wenn die Tage trüb, feucht und kalt werden, wenn es stundenlang regnet und in der Nacht die ersten Fröste auftreten, begannen für Jürgen die harten Zeiten. Seine kategorische Weigerung, wenigstens in den kältesten Nächten eine der Notübernachtungsstellen oder offen gehaltenen U-Bahnhöfe aufzusuchen, brachte alle, die ihn näher kannten, in Verlegenheit. Sich abends in ihren Villen oder Wohnungen hinter Schloss und Riegel ins eigene Bett zu legen, warm zuzudecken und in Ruhe und Sicherheit die Nacht verbringen zu können, das war für einige Anwohner, die ihn täglich sahen, nicht mehr ganz so selbstverständlich wie vor der Begegnung mit ihm. Aber das stimmte nur einige milder. So ein Armer verärgert die Leute, denn er vertreibt nicht nur die gute Laune, er scheint sich auch noch lustig zu machen, in dem er das, was alle im tiefsten Innern befürchten, nämlich Verarmung und Verelendung, freiwillig vor ihrer Haustür praktiziert.
Er kannte kein Erbarmen, lehnte sich radikal gegen alle gesellschaftlichen Konventionen und äußeren Zwänge auf. Abhängigkeit gegenüber Behörden oder Hilfseinrichtungen kam für ich nicht in Frage. Er biss zuverlässig jede Hand, die ihn fütterte. Er geriet gern außer sich und schwelgte in Wut- und Zornesausbrüchen. Zu allen Tieren hingegen war er gütig und liebevoll. „Ich bin mit einer Krähe befreundet“, sagte er, „Füchse und auch Hunde kommen vorbei und grüßen mich. Ich habe jede Menge Mäuse, aber kein Geld.“ Für vieles fand er eigene Worte. Er sagte immer: „Ich habe kein Privat!“ Seine Mäuse nannte er „Tiermäuse“ und die Füchse „Tierfüchse“. Sie hatten bei ihm ein Schlaraffenland. Gegen Menschen benahm er sich meist mürrisch oder auch aggressiv. Er war ein Bürgerschreck, ein öffentliches Ärgernis, ein wirklich wilder Mann. Gerne erschreckte er Passanten, beschimpfte sie als Plagegeister und jagte sie weg. Leute, die mit teurer Outdoor- Kleidung bei ihm vorbeikamen, übergoss er mit Hohn und Spott. „Konsumterroristen“ nannte er sie. Waren sie auch noch mit Nordik-Working-Stöcken unterwegs, war es ganz aus. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für bittere Ironie. Im Winter schmückte er sein Gebüsch mit gebrauchten Tannenbäumen, an denen noch festlich ein wenig Lametta wehte. Gelegentliche Spenden von Geld, Essen und Kleidung nahm er zwar ungerührt an, aber nicht alles und nicht von jedem. Er verwahrte sich dagegen, bemitleidet zu werden, und stellte klar: „Ich bin nicht arm, ich bin mittellos. Das ist was ganz anderes. Ich bin sie los, die Mittel!“ Zum Thema Geld sagte er: „Geld ist für mich nichts wert. Es interessiert mich überhaupt nicht. Kein Geld, keine Geldsorgen. Die nötigsten Dinge zum Leben bekomme ich geschenkt.“
Einer, der ihm über Jahre mit zuverlässiger Regelmäßigkeit das Nötigste schenkte, ist Erkan C., ein freundlicher Mann türkischer Herkunft, der im Berliner Universitäts- und Villenviertel Dahlem eine kleine Bäckerei nebst Café betreibt. Es wird frequentiert von Anwohnern, Studenten und Uni-Personal. Ich bitte ihn, ein wenig von Jürgen zu erzählen: „Ja, der Jürgen … jetzt ist er schon ein Jahr tot. Er war ein seltsamer Mensch. Eines Tages tauchte er hier auf. Er kam rein ins Café und wollte nicht mehr raus. Also er hat schon sehr gestört, er wurde schnell wütend. Dabei war unser erstes Gespräch noch ganz gut, eigentlich. Wenn ich mit ihm alleine war, dann konnte er vernünftig reden, absolut, ganz normale Lautstärke, keine Schimpfworte. Aber kaum waren Gäste da, also Publikum, dann wurde er laut, wollte unbedingt Spektakel machen. Hat sich eine Zigarette angemacht, rumgepöbelt, hat sich vorn in seine Hose reingefasst vor den Kunden und gesagt, na, wollt ihr mal … und solche Sprüche.
Das andere Problem war sein Gestank. Also der war sehr kräftig, extrem! Am Anfang habe ich nichts gesagt, es war natürlich klar, dass die Kunden entsprechend reagieren. Ich habe ihm dann offen gesagt, du, ich habe einfach Probleme mit deinem Geruch – also nicht so sehr jetzt ich persönlich – aber die Gäste stört es sehr. Du kannst hier drin nicht bleiben. Das geht nicht, ich lebe von diesem Café. Ich habe zu ihm gesagt: Pass auf, ich mache dir folgenden Vorschlag. Du bekommst deinen Kaffee, du bekommst dein Brötchen, was du willst, bekommst du von mir, aber nicht hier drin. Du klopfst da am Fenster, ich sage meinen Mitarbeitern Bescheid, die fragen dich und bringen es dir raus. Und dann hat er aber losgelegt: ‚Nicht ich stinke, das Leben stinkt, die Demokratie stinkt. Das ist alles stinkende Scheiße!‘ Ich habe zu ihm gesagt, ja gut, du hast ja recht, aber das Problem kann man nicht hier im Café lösen, meine Kunden haben dafür kein Verständnis. Ich habe ganz ruhig mit ihm gesprochen. Und tatsächlich hat er das dann eingesehen. Damals hatte ich draußen noch nicht die Gartensessel und Sonnenschirme wie heute, es gab Stehtische und eine Bank. Aber er wollte sich gar nicht setzen, ging immer nur die Straße auf und ab. Er musste ja seine Sachen im Auge behalten. Abends, wenn die Putzfrau kam, dann hat er gegen die Fenster geklopft, ein bisschen randaliert und getanzt – das hat er oft gemacht. Und die Putzfrau hatte natürlich Angst vor ihm. Wenn sie fertig war, dann musste ich kommen. Sie traute sich nicht, die Tür aufzuschließen. Später wusste sie dann Bescheid und sagte, okay, der tut mir nichts.
Eine Weile hatte er sich dann zurückgehalten. Das ging ungefähr ein Jahr lang gut. Aber danach fing er wieder an, tagsüber Radau zu machen. Er ging draußen vorbei, nach nebenan, zum Asia-Imbiss – die haben ihm ja auch immer mal was gegeben. Danach stand er dann eine halbe Stunde vor meinem Schaufenster, hat rumgeschimpft und die Leute geärgert. Gleichzeitig hat er sie um Zigaretten oder ein paar Euro angebettelt, und die, die nichts gegeben haben, die hat er dann kräftig angepöbelt. Ich musste ihm freundlich erklären, dass ich damit ein Problem habe. Ich habe ihm gesagt, pass auf, du bist ein intelligenter Mensch, du bist sprachgewandt, du verstehst mich richtig und deshalb verstehst du auch, dass das so nicht geht. Ich habe es dir ja schon erklärt, ich lebe von dem Laden, ich lebe von diesen Kunden. Die sind so, wie sie sind, ob du sie positiv oder negativ findest, das überlasse ich dir. Aber wir beide müssen uns einigen, wir treffen uns an der Ecke, meinetwegen, du bekommst von mir alles weiterhin, keine Frage, aber du kannst hier nicht randalieren und meine Gäste beschimpfen.
Wir haben ihm jeden Tag was zum Essen und Trinken gegeben, jeden Tag auch heißes Wasser in seine Thermoskanne. Eine Zeit lang blieb er dann etwas auf Distanz, stand immer drüben, manchmal hat er gewinkt. Eines Tages habe ich gesehen, dass er abnimmt. Das muss so nach Ostern gewesen sein. Er wurde ruhiger, hat nicht mehr so gepöbelt, hat nur immer weiter abgenommen. Dann wurde er ganz leise, hat nur noch ganz langsame, kleine Schritte gemacht. Da war mir dann absolut klar, dass er krank ist. Ernsthaft krank. Ich habe selbst Krebserfahrung aus der Familie von meiner Schwiegermutter, meiner Mutter, meinem Vater. Ich hab’s bei meinem Vater erlebt, wie er innerhalb von ein paar Monaten abgenommen hat bis auf 40 Kilo. Man sieht, wie das Gehirn funktioniert, keinen Schaden nimmt, während der Körper zugrunde geht. Dann ist er gestorben, zwei Monate nach der Rente. Auch ein paar Freunde hatten Krebs. Ich kenne diese Krankheit. Ich hab’s ihm angesehen und habe ihm gesagt, du, du bist krank, du musst zum Arzt, musst das untersuchen lassen. Aber er wollte absolut nichts davon hören. Zuletzt haben sie ihn doch noch ins Krankenhaus gebracht. Die Kirche hat einen Krankenwagen geholt. Es ging dann ziemlich schnell zu Ende. Man kann fast sagen, zum Glück. Eines Tages jedenfalls hat die Kirche 50 Kaffee bestellt. Ich fragte, na, was ist denn los, und sie sagten, es ginge um den Obdachlosen, der sei ja gestorben und da gibt es jetzt eine Trauerfeier. Da habe ich gleich gesagt, na, dann ist der Kaffee, dann ist alles von mir. Ich bring’s rüber. Das habe ich dann auch gemacht. Nach der Beerdigung haben sich die Kirchenmitglieder dort alle getroffen. Es waren ziemlich viele Leute da. Die alte Dame und den Pfarrer, die kannte ich ja schon, die kommen auch ab und zu hierher ins Café.
Du hast mich fragst, warum mache ich das eigentlich. Also ich bin als Türke jetzt kein gläubiger Moslem in dem Sinn, bin jetzt nicht irgendwie religiös – aber was heißt schon religiös? Also, ich habe einen Glauben an die Menschheit – wie soll ich es erklären – das sollte in jedem drin sein, auch ohne Religion. Aber die Welt ist halt so, wie sie ist. Mehr kann ich nicht sagen dazu. Außer vielleicht noch: Ich bin in Istanbul geboren, bei Kerzenlicht. Wir waren arm. Es war extrem, wir hatten gar nichts. Meine Oma lebte damals schon in Deutschland, und meine Mutter ist dann 1968 – erst mal alleine – zu ihr nach Berlin gegangen, da war ich noch nicht ganz vier Jahre alt. Sie hat gearbeitet als Schichtarbeiterin bei Krone, das war damals eine Telefonfabrik in der Goertzallee. Hat uns Geld geschickt und uns miternährt. Und als meine Oma nach drei Jahren gestorben ist, hat meine Mutter uns 1971 zu sich nach Deutschland geholt. Ich habe beide Seiten kennengelernt.
Jeder macht seine Erfahrungen. Der Jürgen hat viele schlechte Erfahrungen gemacht, extrem schlechte Erfahrungen, glaube ich. Es ist ja auch nicht leicht, das Leben in dieser Gesellschaft. Ich sehe das jeden Tag. In Deutschland sieht zwar alles vornehm aus, aber das Leben ist hier für viele extrem hart. Wenn ich mir vorstelle, dass Menschen mit 500, 600 Euro auskommen sollen … also, das geht ja gar nicht bei diesen Preisen. Aber sie müssen … Und er hat das dann umgedreht. Er hat gesagt, ich will kein Geld. Für mich ist Geld nichts wert. Er brauchte natürlich schon ein bisschen, für Zigaretten und Wein. Aber Wohnung, Arbeit, Auto, das alles wollte er gar nicht. Ich habe ihm ja mehrmals angeboten – besonders im Winter – dass ich ihm einmal die Woche eine Sauna bezahle. Wollte er nicht. Gut, habe ich gesagt, dann finde ich dir eine Stelle, wo du duschen kannst, deine Wäsche waschen kannst. Wollte er auch nicht. Braucht er nicht, sagte er.
Auch als Jürgen noch gelebt hat, habe ich schon die Reste an die Tafel gegeben. Dann lernte ich so einen Mann kennen, Fellmer heißt er. Der wurde durchs Fernsehen berühmt, weil der auch kein Geld mehr benutzt, im Geldstreik ist. Er ist aber nicht obdachlos. Er lebt samt Frau und seinen Kindern mit im Haus bei einem Arztehepaar hier in Zehlendorf. Die haben ihn kostenlos aufgenommen. Der hat da so was aufgezogen, macht eine Sammelaktion zur Rettung von Bio-Lebensmitteln. Er fährt mit dem Fahrrad rum, kommt jeden Abend auch hierher und holt die Sachen ab. Was er nicht selbst braucht, das verteilt er kostenlos über seine Internetplattform www.foodsharing.de. Also der lebt davon, aber er kümmert sich extrem um andere, verteilt die Sachen, macht das alles alleine und umsonst.
Jürgen war natürlich ein ganz anderer Typ, er war viel radikaler. Letzten Endes ohne Rücksicht auf sich selbst. Er hat mir leider nie erzählt, was er eigentlich hatte, was der Grund war für sein Leben auf der Straße. Sagte nur, er wurde immer beschissen, hat immer den Kürzeren gezogen. Über die Politik hat er andauernd geschimpft, extrem geschimpft. Aber nicht nur so, er hat gewusst, wovon er redet. Er hat ja ständig gelesen, Bücher, Zeitungen, was er kriegen konnte. War total informiert. Die Zeitungen bekam er meist von mir am Abend, die liegen ja hier jeden Tag für meine Gäste aus. Er hat auch welche gefunden unterwegs. Also er war total gebildet. Aber er konnte sich von einem Moment auf den anderen verwandeln, das war, wie wenn man einen Schalter umlegt. Dann wirkte er wie ein Verrückter, wurde laut und ordinär, oder er führte sich irgendwie komisch auf, hampelmannartig, um die Leute zu provozieren. Und dann war er plötzlich wieder freundlich und sympathisch. So war er halt. Mehr kann ich nicht über ihn sagen.“
Ein weiterer Anwohner, der sich regelmäßig um Jürgen kümmerte ist A. Er ist Villenbesitzer und wohnt sozusagen um die Ecke. Auch ihn frage ich, ob er mir ein bisschen von Jürgen erzählt: „Ich möchte Sie bitten, dass Sie meinen Namen nicht erwähnen. Schreiben Sie einfach, ein Bürger aus Dahlem. Also das erste Mal, als ich ihn wahrgenommen habe, das liegt schon viel Jahre zurück. Ich habe mich dann mal mit ihm unterhalten und wir haben festgestellt, wir kommen aus der gleichen Gegend, der Pfalz. Er kam aus Alzey. Als ich ihn kennenlernte, lebte er noch vorn auf dem Friedhof Dahlem-Dorf und ist hier in der ganzen Gegend rumgestromert. Dort musste er dann aber weg, es gab wohl Auseinandersetzungen. Er ist rüber auf die andere Straßenseite gezogen und hat dort eine Weile unter dem großen Weidenbaum gelebt. Und dann, vom Weidenbaum aus ist er dann quasi in ‚sein‘ Gebüsch reingegangen, an der Haltestelle in der Königin-Luise-Straße. Da war er eigentlich die ganzen Jahre. Zwischendurch kam mal immer das Ordnungsamt und hat ihn vertrieben, dann war er zeitweise auch mal weiter hinten an der Uni, bei der Physik und hat dort an einem Trafohäuschen geschlafen, oder er hat sich auch mal mit seinen ganzen Tüten schräg gegenüber vor das alte Postgebäude gelegt mit seinen Sachen. Über sich ausgebreitet hatte er den großen grünen Schirm, den ich ihm mal gegeben hatte. Ich habe ihm mal gesagt, du, du kannst auch im Gartenhaus schlafen bei mir, besonders, wenn es so kalt ist. Aber das wollte er nicht.
Vor der Kirche hat er immer Geld gesammelt mit seinem Plastikbecher. Ein schönes Erlebnis, das ich mal mit ihm hatte, das war letzte Weihnachten, bevor er gestorben ist. Da hatte er wirklich viel Geld erbettelt. Dann ist er hin und hat alles in den Kollektenkorb geworfen. Er hat gesagt: ‚Die Kirche hat es nötiger als ich.‘ Er konnte enorm großzügig sein, dabei hatte er ja absolut nichts. Ich habe ihn eigentlich das ganze Jahr über mit Kleinigkeiten versorgt. Fast jeden Morgen, wenn ich in die Messe hochging, habe ich ihm Frühstück vorbeigebracht. Und ich bin auch abends mit dem Hund noch bei ihm vorbei spazieren gegangen. Da hat er mir dann seine Wünsche genannt für morgens. Meist sagte er: ‚Englisch-Rührei mit Toast.‘ Er hatte es ja so mit England, da war er ja mal einige Zeit. Wenn es richtig kalt war, bin ich nachts um elf noch mal hin und habe ihm heißen Tee vorbeigebracht. Die letzten Winter, die waren ja sehr kalt, minus 10 bis teilweise minus 25 Grad. Am nächsten Morgen hat er dann immer gesagt: ‚Guck, ich hab wieder durchgehalten, ich lebe noch!‘ Er war sehr stolz. Jedenfalls hatte er sich auch nichts abgefroren.
Manchmal habe ich ihm, wenn ich tagsüber vorbeigekommen bin, auch mal beim Asiaten Ente oder Hühnchen mit Gemüse und Reis geholt, wenn er das wollte, oder auch mal ’ne Pizza. Und wenn ich mal wegmusste von Berlin, habe ich ihm gesagt, wenn du Hunger hast, geh zu den Asiaten. Dort hatte ich Bescheid gesagt, dass ich das dann bezahle, wenn ich wieder da bin. Das hat er dann auch ein paar Mal gemacht, aber sie haben ihm auch Reis geschenkt abends oder Nudeln mit Gemüse.
Also hungern musste er hier nicht. Er hat auch viel geschenkt bekommen vom Café. Er hatte so viel, dass er damit sogar noch die Mäuse und die Vögel füttern konnte. Er hat immer gesagt, das sind seine Freunde. Wenn man bei ihm gestanden hat, bei seinem Gebüsch, da sind nach einer Weile Hunderte von Mäusen da rumgelaufen. Die haben bei ihm gut gelebt. Und so hat er sich auch die Zeit vertrieben. Er musste ja den ganzen Tag draußen verbringen, hatte überall Hausverbot, weil er immer Krawall gemacht hat. Hier, den Supermarkt durfte er nicht mehr betreten, ins Café Kornfeld durfte er nicht rein, in die Domäne auch nicht. Und er durfte auch nicht mehr in die Kirche St. Marien am Bergheimer Platz in Wilmersdorf. Dort gibt es in der kalten Jahreszeit eine Suppenküche, eine Dusche, eine Waschmaschine, sogar einen Wäschetrockner und auch eine Kleiderkammer haben sie. Er bekam Hausverbot, weil er immer Krawall gemacht hat. Aber er wollte sich auch gar nicht waschen, Körperpflege hat er vollkommen abgelehnt, nur den Bart manchmal und die Nägel hat er sich geschnitten. Er konnte sein wie ein Lamm, so sanft, aber oft war er sehr aggressiv. Alkohol hat ihn geradezu verrückt gemacht. Ich hab dann eines Tages zu ihm gesagt, Jürgen, ich kauf dir keinen Wein mehr – er hat mich manchmal zu Kaiser’s geschickt, weil er ja nicht reindurfte ins Geschäft. Ich sagte ihm, ich kaufe dir gern Lebensmittel, kaufe dir auch ein Päckchen Tabak und Papierchen, aber keinen Wein, der macht dich jedes Mal aggressiv. Aber eins muss ich sagen, wenn er mir gegenüber mal unangenehm geworden ist, dann hat er sich hinterher immer entschuldigt.
Er war auch sehr misstrauisch, besonders wenn es um seine Sachen ging. Alles was er mal geschenkt bekommen hat, hat er ja aufgehoben. Angefangen von so kleinen Armbändern aus England bis hin zu seinen vielen Schlafsäcken. Er hat immer etwas gesucht und nie gewusst, in welchem Beutel es ist. Viele Sachen sind ihm feucht geworden und waren halb verschimmelt und zusammengebacken. Das hatte er alles in blauen Säcken und das Ganze war mit Laub zugedeckt. Das war sozusagen sein einziger Schatz. Aber auch der hat ihn noch beschwert, denn er musste ihn dauernd bewachen. Auch den Abfall. Ich hab mal zu ihm gesagt, komm Jürgen, wir räumen mal auf, ich fass auch mit an. Das hat er dann tatsächlich zugelassen. Dann habe ich die Müllabfuhr angerufen, und die hat, glaube ich, 20 Müllsäcke abgeholt. Das war natürlich auch das, was ein öffentliches Ärgernis erregt hat.
Jedenfalls im letzten Winter, so zum Frühling hin, als es in der Sonne schon ein bisschen warm wurde, hat er seine vielen Pullover und Jacken ausgezogen, und da habe ich gesehen, der ist ganz dünn geworden. Er war ja an sich kräftig gebaut. Ich sagte: ‚Jürgen, du hast ja abgenommen ohne Ende?!‘ Und er sagte: ‚Ja, ich möchte gar nichts mehr essen. Mir kommt alles hoch. Alles kommt mir wieder raus. Das kenne ich gar nicht.‘ Und dann ging es immer schneller. Von Woche zu Woche hat er mehr Kilos abgenommen. Ich habe gesagt, du musst zum Arzt. Aber das wollte er nicht, weil er ja seinen ganzen Kram unbeaufsichtigt lassen musste. Ich habe ihm sogar angeboten, er kann es in der Kirche irgendwo lagern. Aber auch das hat er abgelehnt. Wie es schlimmer wurde, war es dann so, dass ich mit ihm übereingekommen bin, dass ich einen einen Krankenwagen rufe.
Der Krankenwagen war schon auf dem Weg damals, und drei Minuten bevor er da war, kommt ein junger Mann vorbei – also ich bin sicher, das kann nur der Teufel gewesen sein. Der hat ihm ’ne Flasche Wein in die Hand gedrückt. Der Jürgen setzt die an, lässt sie runterlaufen, und als dann der Krankenwagen vorgefahren ist, da war natürlich bereits Terror ohne Ende und der Krankenwagen fuhr wieder weg. Ich war fix und fertig. Ich habe bald einen Herzinfarkt gekriegt. Aber da war nichts zu machen, er war eben ein sehr kranker Mann.
Ich habe mich dann noch verabschiedet von ihm und bin auf Pilgerreise gegangen, weil ich hier in Berlin einen Pilgerverein habe. Ich war in Frankreich, da hat mich der Pfarrer angerufen und gesagt, dass der Jürgen gestorben ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs. So habe ich es erfahren. Zur Beerdigung war ich dann wieder zurück, denn ich wollte ihm ja die letzte Ehre erweisen. Die Kirche war brechend voll. Sein Sarg stand vorne beim Altar, es gab Blumen und ein Foto von ihm im Rahmen. Es gab ein Requiem. Der Weihbischof hier von Berlin hat die Messe zelebriert, unser Pfarrer war natürlich dabei, dazu der Altpfarrer, der Kaplan war dabei und der Diakon … Da haben sich natürlich auch viele aufgeregt und haben gesagt: Das ist ja wie ein Staatsbegräbnis! Die Spendenbereitschaft war aber derart groß – 4.000 Euro kamen, glaube ich, zusammen, sodass der Pfarrer nach Abzug der Beerdigungskosten am Ende noch einiges an Geld an die Berliner Stadtmission für die Obdachlosenarbeit spenden konnte. Wir haben nach Jürgens Tod ein kleines Holzkreuz in sein Gebüsch gestellt und ein Ewiges Licht. Das Grünflächenamt hat zwar aufgeräumt, aber das haben sie stehen lassen. Ich glaube, es steht immer noch. Er hätte unlängst, am 23.11. seinen 56. Geburtstag gehabt.“
Jürgen starb am 7. Juli 2013 in der Schlosspark-Klinik, in einem sauberen Bett. Er hatte gebeichtet, war versehen mit den Sterbesakramenten und hat angeblich auch noch ein Kirchenlied gesungen. Alles war bezahlt, keine Rechnung blieb offen, alles wurde ordnungsgemäß geregelt. Eigentlich hätte er seine letzte Ruhestätte auf einem Friedhof im Bezirk-Lichtenberg finden sollen, denn die Bestattung Obdachloser teilen sich die Berliner Bezirke nach deren Geburtsmonat auf.
In der Regel gibt es für Besitzlose nur eine Beisetzung im anonymen Urnenfeld, denn bei einem Armenbegräbnis wird vom Amt weder Grabmiete noch Grabpflege übernommen. Aber für Jürgen Kindel wendete sich im letzten Moment das Blatt. Er kehrte zurück auf den Friedhof, auf dem er einst zwischen den Grabsteinen von namhaften Verstorbenen sein Nachtquartier aufgeschlagen hatte. Mal schlief er neben längst vergessenen Kammersängerinnen und Schauspielern, bei Unternehmern wie dem Kaufhausbesitzer Wertheim, neben Architekten, die Westberlin geprägt haben nach dem Krieg, mal neben Bildhauern wie Gaul oder Grzimek, dessen Ehrengrab einer seiner lebensgroßen Frauenakte schmückt, oder auch beim RAF-Anwalt Croissant, der Philosophin Margarethe v. Brentano, dem Politologen Ossip K. Flechtheim, dem Theologen Gollwitzer und auch bei Rudi Dutschke. Tagsüber führte er gerne herumirrende Besucher zu den Prominentengräbern, wenn es sich ergab.
Nun ist ihm also das Kunststück gelungen, hier auf dem Dorffriedhof Dahlem für sich ein bleibendes Plätzchen zu finden. Er wurde im Grab eines katholischen Geistlichen beerdigt, der 1954 gestorben war. Zu seinen Füßen wurde die Urne beigesetzt. Das ist der letzte Unterschlupf eines merkwürdigen Mannes, der mal evangelisch, mal katholisch, mal aus der Kirche ausgetreten und wieder eingetreten war. Der, wie er selbst erzählte, zeit seines Lebens über die Kirche schimpfte. Der Hausverbot hatte in der evangelischen St.-Annen-Kirche, deren Pfarrerin er glühend hasste und der Hausverbot hatte in der katholischen St.-Bernhard-Kirche vis-à-vis von seinem Gebüsch. Der sonntags vor dem Portal stand, die Heilige Messe störte und brüllte: „Das sind alles Kinderficker!“ Oder, wie der Pfarrer berichtete: „Im Archiv von St. Bernhard findet sich eine Notiz aus dem Jahr 2002, dass Jürgen während einer Heiligen Messe die Predigt ständig durch Kommentare unterbrochen und Ordensfrauen ‚durch obszöne Gesten belästigt’ hatte.“ Als er ihn darauf hin „von der Kanzel her zur Ordnung rief mit den Worten: ‚Sie stören den Gottesdienst!‘, rief er: ‚Und Sie stören mich!‘“
Das schöne schwarze Fahrrad, das für ihn ein aidskranker taz-Leser nach dem Erscheinen des Portraits (kann online nachgelesen werden unter: www.taz.de/!51647/) 2010 gekauft hatte, lehnte noch eine Weile angeschlossen am eisernen Zaun der Kirche.
Wer sein „Eiben-Heim“ anschauen möchte, der gebe auf Google Earth folgendes ein: „Hechtgraben 1, Berlin“. Am Ende der Straße sehen Sie rechts drei runde Büsche auf einer kleinen dreieckigen Grünanlage, das war sein Unterschlupf. Sie können nun noch Street View starten, das Männchen auf die vor Ihnen liegende Königin-Luise-Straße setzen, und zwar vor das türkisfarbene Kirchendach. Nun können Sie die Kirche ansehen und, wenn Sie möchten, links abbiegend per Pfeiltaste, seinen täglichen Weg an sich vorüberziehen lassen. Vorbei an Geschäften und Häusern, vorbei an Schleicher’s Buchhandlung, dem Eisgeschäft, vorbei an der Domäne und immer weiter, bis Sie vorn die große Kreuzung überqueren, und zu seinem Friedhof gelangen. Auf dem Rückweg kommen Sie dann rechter Hand auch am Café von Erkan vorbei und am „Asia-Snack“.