: Charlotte kann’s
Ergreifend und ungewöhnlich filmisch zeichnete Charlotte Salomon 1940 den Zyklus „Leben? Oder Theater?“, in den sie ihr ganzes Leben packte. Er wird jetzt im Jüdischen Museum Berlin gezeigt
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Schon das erste Blatt erzählt vom Tod. Düster sind die Farben, rot leuchtet die Jahreszahl 1913, geduckt ist die winzige Figur der Frau, die Charlotte Salomon 26-mal auf das Blatt gemalt hat, wie sie über gewundene Straßenschluchten durch die Stadt Berlin schleicht und sich in den Schlachtensee stürzt. „1913: An einem Novembertag verließ Charlotte Knarre das elterliche Haus und stürzte sich ins Wasser“, schrieb Charlotte Salomon dazu. Mit diesem Selbstmord ihrer Tante begann sie 1940 die Geschichte ihres eigenen Leben zu erzählen in über 1.300 Gouachen und Texten. Da war sie 23 Jahre alt und saß, nach einer Internierung in Gurs, dem französischen Lager für Deutsche, in einem Hotel in Villefranche im Exil.
Dem Selbstmord der Tante, die wie alle gemalten Figuren einen neuen symbolischen Namen erhalten hat, folgt die Geschichte der Mutter und wie die sich 1915, als Krankenschwester in einem Lazarett des Ersten Weltkriegs, in einen Arzt verliebt, der Charlottes Vater werden wird. Prächtig malt Charlotte Salomon die Hochzeit und dann, in einem diskreten Blatt, die Hochzeitsnacht. Das Bild ist in drei schmale horizontale Streifen geteilt, oben sieht man die Füße von Braut und Bräutigam über die Stufen einer großen Treppe eilen, in der Mitte tänzeln sie, schon näher beieinander, durch die Tür des Hotelzimmers, dem schließlich in dunkler Nacht der letzte Bildausschnitt gilt. Was für ein Rhythmus, was für eine Zärtlichkeit der Schilderung. Billy Wilder hätte das nicht besser machen können.
Der Zyklus „Leben? Oder Theater?“ von Charlotte Salomon, der jetzt auf der letzten Station einer zweijährigen Ausstellungstournee im Jüdischen Museum in Berlin angekommen ist, zeigt ein großartiges Werk, das in vieler Hinsicht einzigartig in der Kunst der Moderne blieb: Einmalig ist die filmische und serielle Bilddramaturgie, mit der sie nicht nur auf dem einzelnen Blatt verschiedene Phasen einer Geschichte zeichnet, sondern auch lange Erzählbögen über viele Seiten hinweg entwickelt. Einmalig ist die Klugheit, mit der sie, ein junges Mädchen, auf sich selbst als Heranwachsende blickt. Einmalig ist selbst der Witz, mit der sie der Selbstinszenierung fast jeder der Personen, von denen sie erzählt, begegnet.
„Leben? Oder Theater?“ ist alles andere als ein naives Werk: Höchst sophisticated geht die junge Künstlerin, die gerade mal zwei Jahre Kunst studieren konnte, bevor der antisemitische Druck sie von der Kunsthochschule Berlin vertrieb, darin mit ihren Figuren auf dem Papier um, führt in Texten und Angaben zugehöriger Musiken mehrere Ebenen der Kommentierung und Brechung ein und tritt selbst da, wo sie mit ihrem Herzblut malt und vom eigenen Unglück pubertierender Liebe erzählt, immer wieder einen Schritt hinter sich zurück.
Und dennoch hat nicht die außerordentliche Modernität dieser expressiven biografischen Bilderzählung bisher die Rezeption in erster Linie bestimmt, sondern die Geschichte. Denn „Leben? Oder Theater?“ ist auch ein einmaliges historisches Zeugnis vom jüdischen Bildungsbürgertum im Berlin der Dreißigerjahre, von der Illusion einer allen politischen Fährnissen trotzenden Tradition des deutsch-jüdischen Humanismus, von der Stigmatisierung deutscher Ärzte und Künstler als Juden und ihrer Verdrängung, vom schweren Weg in die Emigration.
Denn all das bildet den Hintergrund von „Leben? Oder Theater?“. Nicht nur, weil alle Personen, von denen Charlotte Salomon erzählt, – ihr Vater, die Stiefmutter, der Gesangslehrer, der sich erst in die Stiefmutter und dann in die Tochter verliebte –, davon betroffen sind. Sondern mehr noch, weil Charlotte Salomon in dem Moment zu zeichnen beginnt, als die Verfolgung durch die Nationalsozialisten, selbst in Frankreich, schon alle anderen Optionen auf ein eigenes Leben zerstört und eingeschränkt hatte. Sie ist sehr einsam, als sie mit viel Wasser und viel Tusche alle verlorenen Personen auf dem Papier wiederauferstehen lässt. Und man weiß beim Betrachten der Bilder auch, dass sie selbst, wenige Monate nach der Arbeit an diesem Werk, nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde.
Dem 1. April 1933 gilt ein Blatt, auf dem ein Kreis dunkel gekleideter Männer um eine Säule steht, die ein Pamphlet des Stürmers hoch über ihre Köpfe stemmt. „Der Jude hat nur Geld gemacht von eurem Blut. Deutsche Männer und Frauen, nehmt Rache“. Man sieht sie schon, die deutschen Männer und Frauen, im Mittelgrund in einem Massenzug dahinrasen und die Scheiben von Kaufhäusern einschmeißen. Das ist ein lautes Bild, dem eine ganz andere, stille Einstellung folgt. Ihr Vater sitzt da, den Kopf traurig in die Hände gestützt, und über ihm ist das Bild der Operation eines Magengeschwürs, für die er Spezialist war, durchgestrichen. Albert Salomon war die Lehrbefugnis an der Berliner Universität am 29. März 1933 entzogen worden.
Sehr viele Bilder gelten Paulinka Bimbam, – so heißt Charlottes Stiefmutter, die Sängerin Paula Salomon-Lindberg in ihrer Geschichte – und Daberlohn (hinter dem sich Alfred Wolfsohn verbirgt), ihrem Lehrer für Stimmbildung. Wie Daberlohn Paulinka verehrt, wie sich sein Körper zu einem weitgespannten Boden dehnt, der auf den Textzeilen seiner Gedanken schwebt, wie sie ihn zurückweist und Daberlohn in seiner Verzweiflung lange, existenzphilosophische Diskurse hält, unterstützt von hunderten verschiedenen Gesichtsausdrücken, die Charlotte in lauter kleinen Daberlohnpüppchen zeichnet, gehört zu den anschaulichsten Erzählungen über unglückliche Liebe, Sublimation und Verzicht, die je gestaltet wurden.
Das schwärmerische Temperament von Daberlohn, Musiker, Schriftsteller und Philosoph, zieht Charlotte Kann, wie die Autorin ihr Alter Ego nennt an. Wie er mit ihr spazieren ging, das zeigt sie in einer Bildsequenz, die sie ohne Text und großzügig auf ganzen Blättern, ohne Unterteilung gemalt hat – und man glaubt nachzufühlen, wie sie sich beim Malen über das Blatt gebeugt zurückversetzt hat in diese wenigen hoffnungsvollen Momente. Was sie aber nicht daran hindert, ein paar Seiten später zu spotten über das Pathos, mit dem er seine künstlerischen Schöpfungskrisen durchlebt. Daberlohns Erlösungsfantasien, die dem Weg des Leidens einen Sinn geben, teilt sie nicht, was im Angesicht der Geschichte entschieden klug ist.
Es war der Glaube an die Kultur als Bastion gegen die Barbarei der Nazis, die Charlottes Familie bis Anfang 1939 in Berlin hielt. Ihre Stiefmutter war im Jüdischen Kulturbund engagiert, dem letzten Ort, an dem deutsche Juden auftreten durften und der viele viel zu lange von der Emigration abhielt. Im Kontext der Diskussion über den Jüdischen Kulturbund und seine ambivalente Haltung stand auch die letzte Ausstellung der Zeichnungen von Charlotte Salomon in der Berliner Akademie der Künste 1986.
Erst im Januar 1939 schickten die Eltern Charlotte zu den Großeltern nach Südfrankreich. Aber dort holt sie die Familiengeschichte ein: Sie erfährt, dass ihre Tante und ihre Mutter sich umgebracht haben. Depressionen verfolgen die Frauen der Familie: Viele Bilder in blassen Farben, mit fahrigen Strichen nur grob konturiert und mit dicken Buchstaben voll geschrieben, gelten Charlottes Versuch, die Großmutter aus diesem schwarzen Loch herauszureden. Es gelingt ihr nicht. Grund genug für Verzweiflung liefern die Zeitläufte ja ohnehin. Noch eine erschreckende Szene folgt, Charlotte malt, wie ihr Großvater zu ihr sagte: „Nun nimm dir doch endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört.“
Kurz darauf begann sie mit der Arbeit an „Leben? Oder Theater?“, auch auf ärztlichen Rat hin, als Hilfe gegen die Depression. Aber der Zyklus wird so viel mehr. Die langen Bildserien, die unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten, der freie Umgang mit den nicht gegenstandsgebundenen Farben, die begleitenden und die in die Bilder hineingeschriebenen Sätze, die dazu angegebenen Melodien aus Opern und Operetten, jiddischen Volksliedern und Kunstliedern, um Teile der Dialoge zu singen: Das ist ein großartiges mediales Experiment, mit notwendigerweise ganz sparsamen Mitteln ausgeführt. Es ist sogar ein Vorgriff auf einen konzeptuellen Kunstbegriff, insofern das Überschreiten der Gattungsgrenzen immer mit imaginiert wird.
Über ihre Eltern, die in Amsterdam überlebten, kam der Zyklus in den Sechzigerjahren an das dortige jüdische Museum, das eine Auswahl von 300 Blättern seit 2004 auf verschiedene Ausstellungsstationen (in Frankfurt am Main, Paris, Jerusalem, Innsbruck) schickte. In Berlin geht die Tournee zu Ende, bevor die empfindlichen Blätter schon aus konservatorischen Gründen wieder dem Licht entzogen werden müssen.
Es gibt Filme über Charlotte Salomon, man hat eine Schule in Berlin nach ihr benannt, kleinere Wanderausstellungen tourten. Aber erst seit Beginn der Neunzigerjahre ist sie auch in den großen Zentren der Kunst, etwa dem Centre Pompidou in Paris oder der Whitechapel Gallery in London, angekommen. Ein Grund für diesen langen Weg in die Aufmerksamkeit ist sicherlich auch der monolithische Charakter des Werks, als ob ein Regisseur nur einen einzigen Film, ein Sänger nur eine einzige Platte hinterlassen hätte, die erst zwanzig Jahre später zum ersten Mal gesehen/gehört werden. Für mehr war ihr keine Zeit gelassen.
Charlotte Salomon, „Leben? Oder Theater“. Im Jüdischen Museum Berlin, bis 25. November. Der Katalog, erschienen bei Prestel, kostet 24,90 €