: LKA-Papier: Mafiakrieg droht
Jahrelang haben das Landeskriminalamt Baden-Württemberg und das Innenministerium in Stuttgart das Mafiaproblem im Land heruntergespielt. Jetzt zeigt ein internes LKA-Papier, das der Kontext:Wochenzeitung vorliegt, dagegen die krasse Realität: In ganz Baden-Württemberg leben zahlreiche Mitglieder und Kontaktleute vorrangig der gefährlichen kalabrischen 'Ndrangheta. Es drohen sogar blutige Kriege zwischen einzelnen Clans
von Jürgen Roth und Rainer Nübel
Lagebild Baden-Württemberg“ steht über dem vertraulichen Papier, das vom Stuttgarter Landeskriminalamt im vergangenen Jahr angefertigt worden ist. Es geht um die organisierte Kriminalität im Land, also um den Bereich schwerer Verbrechen – um Mafia. Auf fünf Seiten wird in den LKA-internen Unterlagen die Präsenz italienischer Banden der „Ehrenwerten Gesellschaft“ in Baden-Württemberg beschrieben.
Sie haben es in sich. Denn gerade was die italienische Mafia angeht, da haben Verantwortliche des LKA, aber auch des Landesinnenministeriums in den vergangenen Jahren der Öffentlichkeit allzu oft suggeriert, sie spiele, wenn überhaupt, keine erhebliche Rolle. Von „alten Geschichten“ war abwinkend die Rede, wenn Journalisten etwa über die inzwischen weltweit mächtigste Mafia-Organisation, die 'Ndrangheta, und deren Bezüge zu Baden-Württemberg berichten wollten.
Eine Position des Mauerns und Verharmlosens, die selbst ausländische Reporter verärgert kommentieren ließ, dass das eigentlich für die Mafia typische Schweigegelübde der „Omertà“ vorrangig auch für führende Ermittlungsbehörden in Baden-Württemberg gelte. Öffentlichkeitsarbeit, um über das Krebsgeschwür zu informieren und präventiv wirken zu können – wie in Italien erfolgreich praktiziert –, scheint in Baden-Württemberg des Teufels zu sein.
Jetzt durchbricht das interne LKA-Papier diese Omertà – und dokumentiert eine brisante Situation: Laut diesem Lagebild haben mindestens elf verschiedene 'Ndrangheta-Clans Dependancen, Mitglieder und Kontaktleute in Baden-Württemberg. Von Stuttgart bis an den Bodensee, von Karlsruhe bis Ulm. Immer wieder werden in den LKA-Unterlagen die kriminellen Aktivitäten der verschiedenen kalabrischen Mafiagruppierungen aufgezählt: Drogenhandel, Waffenhandel, Schutzgelderpressung, Bestechung.
Auffällig: Die Geldwäsche wird nicht erwähnt
Was dabei auffällt: Ein weiterer gravierender Deliktbereich, den das Bundeskriminalamt (BKA) in seinem aktuellen ’Ndrangheta-Bericht zu denselben Clans aufführt, wird von den Stuttgarter Ermittlern merkwürdigerweise nicht genannt: Geldwäsche. Dabei ist gerade die ’Ndrangheta darin höchst aktiv. Jährlich macht die kalabrische Mafia-Organisation mit ihren kriminellen Geschäften weltweit einen geschätzten Umsatz von mehr als 40 Milliarden Euro. Keine Erwähnung findet in dem LKA-Dossier auch, dass die 'Ndrangheta enge Bündnisse mit türkischen und kolumbianischen Drogenkartellen eingegangen ist.
Die 'Ndrangheta gilt bei Mafia-Experten auch deshalb als gefährlich, weil es ihr gelungen ist, Personen einzusetzen, gerade im Bereich der Geldwäsche, die keinerlei Vorstrafen haben und nie polizeilich in Erscheinung getreten sind. „Häufig“, so das BKA, „sind es Finanzexperten, die in der Lage sind, komplexe Transaktionen im Auftrag der kalabrischen Familien durchzuführen.“ Dieses System funktioniert auch in Baden-Württemberg – aber kein Wort davon in dem Lagebericht.
Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Machtkämpfe zwischen den Clans, wie in Kalabrien, sich auch hier auswirken. Seit Jahren, so schreiben die baden-württembergischen Ermittler, befinde sich der Clan Forastefano im Konflikt mit dem Clan dei Zingari. Mitglieder beider 'Ndrangheta-Gruppen leben im Süden Baden-Württembergs. Der Konflikt eskalierte – nicht in Kalabrien, sondern im „Musterländle“: Im Sommer 2007, so steht im Bericht des LKA, „entsandte der Clan Forastefano einen Killer nach Singen, um einen Vertreter des Clan dei Zingari zu ermorden“. Durch LKA-Ermittlungen habe dieses Verbrechen verhindert werden können. Die Öffentlichkeit ist darüber nie informiert worden.
Im Raum Konstanz haben sich laut diesen Unterlagen zwei weitere ’Ndrangheta-Clans (Maiolo und Loiello) angesiedelt, die sich in einem „dauerhaften Streit“ befinden. Wozu ein solcher Konflikt führen kann, zeigte sich dramatisch im Sommer 2007 in Duisburg, als Auftragskiller einer führenden ’Ndrangheta-Gruppe aus San Luca sechs Kalabrier eines verfeindeten Clans vor einer Pizzeria erschossen. Und auch in diesem brisanten Zusammenhang kommt der Südwesten erneut in den Blick: „Die Opferfamilien von Duisburg verfügen über Vertraute in Baden-Württemberg“, steht in dem internen LKA-Papier. Eine Spur führt demnach in den Raum Karlsruhe, eine andere nach Ulm.
Mehrere Clans kämpfen um die Vorherrschaft
Die Gefahr, dass sich ein Mafiakrieg mitten in Baden-Württemberg abspielen könnte, gilt offenbar auch und besonders für den Raum Stuttgart. Dort hat sich seit mehr als zwanzig Jahren vorrangig der mächtige Farao-Clan aus dem Raum Crotone nördlich von Cantanzaro festgesetzt. Sein Boss, Giuseppe Farao, hatte sich wiederholt in Stuttgart aufgehalten, bis er Mitte der 90er-Jahre in Italien verhaftet und später wegen mehrfachen Mordes zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Diesem Clan soll laut dem aktuellen ’Ndrangheta-Bericht des Bundeskriminalamts nach wie vor ein kalabrischer Gastronom angehören, der in früheren Jahren mit baden-württembergischen CDU-Politikern in regem Kontakt gestanden hatte. Laut Erkenntnissen des BKA soll er zudem über Kontakte zur sizilianischen Cosa Nostra verfügen. Davon ist im Lagebericht des Stuttgarter Landeskriminalamts seltsamerweise keine Rede. Auch nicht davon, dass der Name dieses Mannes in italienischen Ermittlungsunterlagen zu einem 2008 von 'Ndrangheta-Leuten begangenen Wahlbetrug in Stuttgart aufgeführt wird.
Wohl aber schildern die LKA-Ermittler, dass Kalabrier aus der Provinz Crotone, die sich vor Jahrzehnten im Großraum Stuttgart angesiedelt haben und teilweise in der dritten Generation hier leben, über Kontakte zu Personen mit ’Ndrangheta-Bezügen verfügen. Neben dem Farao-Clan, der sich mit anderen Clans verbündet hat, dominiert in der Region Crotone eine zweite mafiöse Gruppe: der Clan Grande Aracri. Zwischen beiden Gruppen tobt inzwischen ein blutiger Kampf um die Vormachtstellung in Crotone, wie im Lagebild des Stuttgarter Landeskriminalamts geschildert wird: „So wurde am 28. 9. 2008 der Schwiegersohn des Giuseppe Farao in der Nähe von Mailand ermordet.“ Sein Leichnam sei auf dem Grab des im Juli 2008 erschossenen Chefs einer mit dem Farao-Clan verbündeten ’Ndrangheta-Gruppe abgelegt worden. „Vertreter der verfeindeten Clans“, so das LKA, „wurden bisher im Großraum Stuttgart und im Regierungsbezirk Karlsruhe festgestellt.“
Das Lagebild der LKA-Ermittler liest sich, obwohl es eher zurückhaltend ist (im BKA-Bericht 2008 wird weitaus präziser und ausführlicher über die Ausbreitung der ’Ndrangheta im Land berichtet), immer wieder wie eine baden-württembergische Mafiakarte: Der einflussreiche ’Ndrangheta-Clan Carelli („Hauptbetätigungsfelder sind im Rauschgift- und Waffenhandel sowie Schutzgelderpressungen“) verfüge über Bezüge in den Raum Ludwigsburg und in den nordwürttembergischen Raum. Mitglieder des Clans Giglio seien im Regierungsbezirk Tübingen und Stuttgart wohnhaft. Ein im südbadischen Raum lebender Italiener werde dem Clan Tolone zugerechnet. Personen, die dem Umfeld des im Raum Cosenza ansässigen Clans Perna-Rua zugerechnet werden, seien im Regierungsbezirk Tübingen festgestellt worden. Mehr als ein Dutzend Personen, die in Baden-Württemberg gemeldet sind, würden in Zusammenhang mit dem Clan Critelli (Region Cariati) gebracht. Und: Ein Mitglied des Iona-Clans lebe mit seiner Familie im Regierungsbezirk Stuttgart – auch diese Gruppe stehe mit dem Farao-Clan seit mehreren Jahren in einem „blutigen Kampf“.
Seit dem Sechsfachmord in Duisburg steht primär die kalabrische Mafia im Blickpunkt deutscher Behörden. Doch das geheime LKA-Papier zeigt, wie präsent nach wie vor auch die sizilianische Cosa Nostra in Baden-Württemberg ist. Dabei wird offen zugegeben, dass aufgrund des Massakers von Duisburg 2007 „der Bearbeitungsschwerpunkt in Bund und Ländern seither auf der 'Ndrangheta liegt“. Das heißt übersetzt, dass man über die Dependancen der Cosa Nostra in Baden-Württemberg offenbar wenig oder überhaupt nichts mehr weiß.
Immerhin informierten 2008 italienische Mafia-Ermittler in Palermo ihre Stuttgarter Kollegen darüber, dass eine „Zielperson“ im Raum Tübingen wohne. „Der Tatverdächtige wohnte seit Jahren unscheinbar mit seiner Familie in Baden-Württemberg, ohne jemals polizeilich in Erscheinung getreten zu sein“, steht im Lagebericht des LKA. Auch zwei Mafiosi, die am 30. August 2009 in Sizilien vor einem geplanten Dreifachmord festgenommen wurden, hatten über mehrere Jahre in Baden-Württemberg gewohnt und gearbeitet. Zudem verfügte ein 2009 gesuchter Boss der Cosa Nostra über Kontakte zu in Baden-Württemberg lebenden Landsleuten. Und vor einem Jahr gingen Ermittler Hinweisen nach, wonach sich eine „Mafiagröße“ in regelmäßigen Abständen im Großraum Stuttgart aufhalten soll. Doch all diese Erkenntnisse beruhten auf Ermittlungen in Italien. Es gab offenbar keinerlei eigene Initiativ- oder Strukturermittlungen in Baden-Württemberg.
Das Lagebild Baden-Württemberg der LKA zur italienischen Mafia zeigt, dass die Existenz der ’Ndrangheta in Baden-Württemberg keine Erfindung sensationslüsterner Journalisten ist. Dabei bleibt die Landesbehörde, was die Zahl der im Land präsenten Clans angeht, deutlich hinter dem aktuellen BKA-Bericht zur ’Ndrangheta zurück. Gar nicht erwähnt sind indes gleich mehrere mafiöse Großfälle mit Landesbezug: der Wahlbetrug von ’Ndrangheta-Mitgliedern 2008 in Stuttgart, durch den der inzwischen in Haft sitzende Berlusconi-Politiker Nicola Di Girolamo in den römischen Senat gehievt wurde, ein Ableger eines Mammutfalles von mafiöser Geldwäsche in Italien in Höhe von 2 Milliarden Euro. Dasselbe gilt für Ermittlungen gegen einen hochrangigen ’Ndrangheta-Mann aus Singen, der 2010 in Italien festgenommen wurde.
Zudem scheint es in Baden-Württemberg bislang keine Strukturanalyse zu Pizzerien zu geben. Im Lagebericht wird nur angeführt, dass im Land 13 Pizzerien mit der 'Ndrangheta in Zusammenhang gebracht würden – laut BKA solle allein die kalabrische Mafia in Deutschland über ein Netz von rund 300 Pizzerien verfügen. Von Restaurants der Camorra und Cosa Nostra ganz zu schweigen. Anscheinend soll es erst jetzt, mehr als vier Jahre nach dem Massaker in Duisburg, eine Untersuchung über die Besitzverhältnisse italienischer Restaurants in Baden-Württemberg geben. Und noch etwas fällt in den internen LKA-Unterlagen auf: Von konkreten Ermittlungen in Baden-Württemberg gegen mutmaßliche Mafiamitglieder ist so gut wie nicht die Rede. Kriminalisten beklagen, dass ihnen für die Ermittlungen die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen verweigert würden.
Behörden reden das Problem klein bis zu Unkenntlichkeit
Eines zeigt der vertrauliche Bericht freilich eindeutig: Die bisherige Politik des Verharmlosens und des Wegredens des Mafiaproblems in Baden-Württemberg ist desavouiert. Und nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wie bisher gemauert und abgewiegelt wurde, hat jetzt übrigens auch der Spiegel-Redakteur Andreas Ulrich in einem gerade erschienenen Buch über die 'Ndrangheta („Metastasen“) eindrucksvoll beschrieben: „Die deutschen Behörden hüten sich geradezu davor, gegen die italienische Mafia zu ermitteln. Sie reden das Phänomen klein bis zur Unkenntlichkeit.“ Und an anderer Stelle: „Auf Nachfragen reagiert das Landeskriminalamt in Stuttgart allerdings sehr zugeknöpft und versucht jeden Eindruck zu zerstreuen, es gebe in Baden-Württemberg ein Mafiaproblem.“
Bleibt die Frage: Wird der neue Innenminister Reinhold Gall (SPD) offener mit dem gravierenden Problem umgehen?
Jürgen Roth beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Mafia. 1993 löste er in Baden-Württemberg die „Pizza-Affäre“ aus, als er bei einem Vortrag in Stuttgart darlegte, dass der damalige CDU-Landtagsfraktionschef Günther Oettinger von zwei Ministern über laufende Mafia-Ermittlungen gegen einen mit ihm befreundeten Gastronomen informiert worden war. Im Eichborn Verlag ist gerade Roths neues Buch „Unfair Play“ erschienen, in dem er kriminelle Machenschaften im Sport schildert.