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Archiv-Artikel

Wie im Drehbuch

Die WM-Erfolge der Deutschen haben dafür gesorgt, dass über die Probleme des Turnsports nicht mehr gesprochen wird. Das Wertungssystem ist immer noch nicht transparent. Auch wird das Turnen immer mehr zu einer Risikosportart

STUTTGART taz ■ Der Vergleich drängte sich bereits letzte Woche nach dem Bronze-Gewinn im Mannschaftsfinale der Männer auf, und Thomas Andergassen sprach ihn aus: „Erst die Fußballer, dann die Handballer und jetzt wir. Ich kann das gar nicht glauben.“ Es kam noch viel besser, und nach Abschluss des neuntägigen Mammutprogramms ist die von den Cheftrainern Andreas Hirsch und Ulla Koch häufig bemühte Formulierung der „erfüllten Zielstellung“ wahrhaftig eine Untertreibung: Das Frauenteam auf Platz zehn wird seit 1992 erstmals wieder an Olympia teilnehmen und hat mit der Mehrkampf- und Barrenfinalistin Marie-Sophie Hindermann einen potenziellen Star, der nun bundesweit bekannt sein dürfte. Und natürlich Fabian Hambüchen, der – mit Silber im Sechskampf und als Weltmeister am Reck – seine Zugehörigkeit zur Weltspitze bewiesen hat.

„Es läuft wie im Drehbuch“, hatte Wolfgang Willam nach der Qualifikation konstatiert, und wer gesehen hat, wie der stets beherrschte Sportdirektor nach dem Reckfinale Fabian Hambüchen um den Hals fiel, ahnt, dass selbst das optimistischste Drehbuch diesen Verlauf nicht vorgesehen hat. Selbst das Losglück war mit den Deutschen: Hambüchen ging als letzter Turner im Finale der besten Acht ans Gerät. Vater Wolfgang Hambüchen hob den Junior zum vierten Mal in diesen Tagen an die Stange, und dieser zeigte zum vierten Mal eine meisterliche Übung. Die Zuschauer dankten es ihm. „Ich hab mir keinen Druck gemacht, bin da relativ locker rangegangen, und es hat echt viel Spaß gemacht“, sprach der 19-jährige „German Superstar“ – wie es in der Pressemitteilung des Internationalen Verbands hieß.

Die beiden für diese märchenhafte Woche Verantwortlichen, die rheinische Gymnasiallehrerin Ulla Koch und der Berliner Andreas Hirsch, haben einiges gemeinsam: Beiden ist es gelungen ein Team von selbstbewussten jungen und erfahrenen Athleten zusammenzustellen, und beide bleiben bei allem Erfolg erfreulich ruhig und besonnen. Wir-sind-wieder-wer-Allüren manch altdeutscher Turnbrüder im Jahn’schen Geiste sind ihnen fremd. „Wir haben uns gerne von der Stimmung tragen lassen, es war ein sehr angenehmes Gefühl“, meinte Hirsch, „wir haben es ja nicht so leicht wie die Spielsportarten, wo der Ball hinter der Linie ist oder nicht.“

Die früher so oft beklagte Kompliziertheit der Sportart rückte angesichts der Medaillengewinne in den Hintergrund. Mit ein wenig Distanz betrachtet, hat sich daran und auch an den anderen Problemen allerdings nichts geändert: Die von den neuen Wertungsvorschriften, die seit Anfang 2006 gelten, erhoffte größere Transparenz und Objektivität sind auch hier nicht eingetreten. Zahlreiche schwere Verletzungen, unter anderem der Olympiasieger Kyle Shewfelt (beide Beine gebrochen) und Marian Dragulescu (Wirbelfraktur), deuten an, dass die ständig höheren Belastungen, die den fliegenden und rotierenden Körpern zugemutet werden, an eine Grenze stoßen. An der Weltspitze stehen insbesondere bei den Turnerinnen jedes Jahr wieder neue Gesichter, die die gerade 17- oder 18-jährigen Meister des Vorjahres verdrängen; so die 15-jährige US-Amerikanerin Shawn Johnson, mit Gold im Team-, Mehrkampf- und Bodenwettbewerb erfolgreichste Athletin der Woche.

Für den DTB und den prophezeiten langfristigen Aufschwung des Turnens wird nicht zuletzt entscheidend sein, ob sich Fabian Hambüchen in dieser kleinen Elite halten kann. Für den Moment jedoch ist das egal, und die Frage ist eher, wer denn eigentlich dieses Märchen verfilmt. SANDRA SCHMIDT