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Archiv-Artikel

Provinz im Zentrum

Der Historiker Michael Wildt erforscht auf beeindruckende Weise die „Volksgemeinschaft“ vor und während des Nationalsozialismus. Sein neues Buch bietet eine weit ausgreifende intellektuelle und historische Einordnung

VON PAUL NOLTE

Die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ ist Gegenstand wissenschaftlicher Debatten wie kaum zuvor. Lange Zeit als bloße Propagandaformel zur Seite geschoben, treten Wirkungsmacht und soziale Realität dieses Integrations- und Exklusionskonzeptes immer deutlicher hervor. Die Volksgemeinschaft war nicht einmal eine Erfindung der Nazis, sondern bei Sozialdemokraten und Liberalen seit dem Ersten Weltkrieg zu Hause, um den Wunsch nach Egalität in einer zerklüfteten und hierarchischen Klassengesellschaft auszudrücken.

Teile dieser Sehnsucht griff die Politik des „Dritten Reiches“ auf, zum Beispiel mit Elementen der Anerkennung und „Belohnung“ der Arbeiterschaft. Aber die exklusive, die rassistische, die antisemitische Grundlegung dieser Volksgemeinschaft bildete immer eine unauflösliche Komponente auch der Belohnungssysteme. Darauf hat Götz Alys Studie über „Hitlers Volksstaat“ und seine „Gefälligkeitsdiktatur“ eindringlich hingewiesen. Wie konstituierte sich die Volksgemeinschaft im unmittelbaren Vollzug der Ausgrenzung anderer, in der Gewalt gegen Juden, die bisher Nachbarn in Dorf und Kleinstadt waren? Das ist die Leitfrage eines wichtigen und anregenden Buches von Michael Wildt.

Wildt ist in den letzten Jahren zu einem der renommiertesten NS-Forscher, ja Zeithistoriker überhaupt geworden, nicht zuletzt mit seiner generationellen Kollektivbiografie einer entscheidenden Tätergruppe des Holocaust, des Führungskorps im Reichssicherheitshauptamt: der „Generation des Unbedingten“. In dessen Fortsetzung steht unverkennbar die Studie über die Volksgemeinschaft; intellektuelle Verbindungsfäden sind Carl Schmitts Rechtfertigung der homogenen Volksdiktatur und – Wildts Antipode zu Schmitt – Ernst Fraenkels Konzept des nationalsozialistischen „Doppelstaates“ mit dem Janusgesicht von Normen und Maßnahmen. Aber jetzt richtet sich der Blick nicht auf eine schmale Elite, sondern auf die ganz normalen Deutschen und ihre Rolle bei der zunehmenden Ausgrenzung ihrer jüdischen Nachbarn bis an die Schwelle des Krieges und der damit beginnenden systematisierten Vernichtung.

Die Hauptlinie und die These Wildts lässt sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens sei der Nationalsozialismus von Anfang an eine Politik und ein System der Gewalt gewesen – und zwar der physischen, nicht irgendeiner symbolischen Gewalt. Dem Nexus zwischen der Gewaltdisposition des Regimes und der Gewaltbereitschaft „an der Basis“ widmet der Autor erhebliche empirische, aber auch konzeptionelle Anstrengung; trotzdem bleiben da offene Fragen.

Zweitens geht es um den Nachweis der Kontinuität eines Verhaltensmusters. Boykotte und Pogrome gegen Juden begannen nicht erst am 30. Januar oder 1. April 1933, und erst recht bildete der Novemberpogrom von 1938 keinen plötzlichen Einfall der „Barbarei“ in eine bis dahin im großen und ganzen noch zivilisierte Welt. Die Zäsur von 1933 bleibt bedeutsam, aber seitdem erodierte die Zivilgesellschaft in kleinen Schritten, in immer neuen Episoden der radikalisierten Exklusion und Gewalt. Die Analyse dieser lokalen Gewaltaktionen gegen Juden – Boykotte, eingeworfene Fensterscheiben, Schlägertrupps – und ihrer schleichenden Akzeptanz stehen im Mittelpunkt des Buches.

Dabei arbeitet Michael Wildt, drittens, sehr subtil die aktive Rolle der vermeintlichen Nur-Zuschauer heraus, die den SA-Trupp anfeuerten, seiner Aktion durch die Herstellung von Öffentlichkeit Legitimität verliehen, und die buchstäblich zu „Mitläufern“ wurden, wenn ein der „Rassenschande“ bezichtigter Kaufmann auf einem Schandumzug mit Schild um den Hals durch die Hauptstraßen getrieben wurde.

Der Autor hat umfangreiches und teils neues Quellenmaterial ausgewertet, vor allem lokale und regionale Berichte des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ an die Berliner Zentrale, die erst im letzten Jahrzehnt in Moskau zugänglich geworden sind. Dazu kommen Berichte von Staats- und Parteistellen über lokale Vorfälle, die im damaligen Jargon „Einzelaktionen“ hießen und von der Berliner Führung zugleich gefördert und missbilligt wurden. Aber auch die lokalgeschichtliche Literatur und klassisch gewordene Erinnerungstexte wie die Sebastian Haffners hat Wildt gründlich ausgewertet. Er will damit den Fokus auf die „Provinz“ lenken, auf das ländliche und kleinstädtische Milieu, in dem die Stellung der jüdischen Minderheit, überhaupt die Mechanismen einer Face-to-Face-Gesellschaft, andere Bedingungen der Ausgrenzung und Verfolgung als in der Großstadt schufen.

Gerade an diesem Punkt freilich bleibt manches unklar. Waren die Handlungsmuster in einem hessischen Dorf tatsächlich anders als in Berlin oder München; wie scharf war die Grenze gezogen? Die zahlreichen Beispiele aus Berlin, die Wildt bringt, beantworten das nicht. Wichtiger noch, die „Provinz“ bleibt ein etwas pauschaler Sammelbegriff, hinter dem sich doch eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Traditionen, Mentalitäten und Sozialverhältnisse verbirgt. Denn Hessen war nicht Ostfriesland und Baden nicht Ostpreußen.

Keinen auch nur oberflächlichen Kenner wird es überraschen, dass Nord- und Mittelhessen einen Schwerpunkt auf der (imaginären) Landkarte des Buches bilden. Systematisch erklärt und in die Interpretation einbezogen wird das jedoch nicht. Vielleicht deshalb nicht, weil das mit der zentralen These des Autors über den Ursprung der Gewalt kollidieren würde. Denn Wildt meint: Die Unterscheidung nach Provinz oder Zentrum ist ziemlich unerheblich. Die Gewalt wurde möglich, weil der Nationalsozialismus die Volksgemeinschaft im Carl Schmitt’schen Sinne für souverän erklärte, und das galt für die Reichshauptstadt nicht anders als für ein hessisches Bauerndorf.

Dass die Provinz auf diese Weise eine etwas einheitsgraue Hintergrundfolie bleibt, ändert nichts an der Bedeutung vieler Ergebnisse und der Eindringlichkeit ihrer Darstellung. Deutlich treten die Grundmuster, die Handlungsfelder und Anlässe der judenfeindlichen Gewalt hervor, es sind vor allem zwei: Konsum und Sexualität. Die Übertretung sexueller Normen geriet nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 auch an der lokalen Basis zunehmend ins Visier der Judenhasser – und in die denunziatorischen Schaukästen des Stürmers. Weit holt hier Wildt aus, indem er auf die jahrhundertelange Geschichte von Ehren- und Prangerstrafen verweist.

Eine ähnlich grundsätzliche Interpretation fehlt für den zweiten Komplex: Handel und Konsum mit der Aktionsform des Boykotts – schade, weil Wildt als Autor einer Pionierstudie zur westdeutschen Konsumgesellschaft der 50er-Jahre dazu viel Interessantes sagen könnte. Im Ergebnis zeigt sich, von der Endphase der Weimarer Republik bis in die flächendeckende Brutalität des 9. November 1938, ein Prozess, den man in Anlehnung an einen Begriff Hans Mommsens für den Holocaust als „kumulative Radikalisierung“ bezeichnen könnte. Es ging immer noch etwas schlimmer, und was lange Zeit wie Einschüchterung aussah – Stichwort „Kristallnacht“ –, war in Wirklichkeit bereits, das belegen Wildts Beispiele immer wieder, die brutale Vertreibung.

Schon darin liegt der Wert dieses Buches, das überdies elegant und lesbar geschrieben ist. Der Mehrwert liegt in den weit ausholenden intellektuellen Verknüpfungen, in die der Verfasser sein empirisches Material stellt: von den Ehrenstrafen des Mittelalters bis zu Carl Schmitt, von einer Anthropologie der Gewalt bis zum europäischen Kontext antijüdischer Pogrome.

Und dennoch liegt in dieser Stärke eine Schwäche, denn da passt vieles, so anregend es für sich ist, nicht zusammen. Welche Linie führt von Carl Schmitt und der Präambel der Weimarer Reichsverfassung zu marodierenden Jugendlichen? Dominieren die Kontinuitäten oder überwiegt das Neue und Besondere? Dass Wildt etwa die Ehrenstrafe des Prangers in einer langen Linie vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert erklärt, dann aber ausgerechnet die Kontinuität ins „Dritte Reich“ verneint und von bloßer „Mimikry“ älterer Formen spricht, bleibt unbefriedigend; vielleicht ist es sogar falsch, wenn man an die unzweifelhafte Beharrungskraft von Milieus und Mentalitäten gerade im ländlich-kleinstädtischen Raum, in der Provinz, denkt. Seltsamerweise wird auch die „Selbstermächtigung“, der Kernbegriff im Titel, nicht wirklich erklärt.

Aber was wäre ein gutes Buch ohne offene Fragen und Flanken? Dieses jedenfalls wird die Debatte über die Täterschaft der „normalen Deutschen“ weiter anregen. Und man kann es, darüber hinaus, gleichsam als eine negative Fallstudie über Zivilcourage lesen.

Michael Wildt: „Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919–1939“. Hamburger Edition, Hamburg 2007, 412 Seiten, 28 Euro