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Archiv-Artikel

Theater zwischen den Generationen

Intendant Wilfried Schulz lässt in seiner letzten Saison am Schauspiel Hannover vor allem alte, kanonische Stücke auf die Bühne. Die sind in seinem Sinne inszeniert: Die ganze Spannweite der Gesellschaft unter einem Dach – als aufmerksames Miteinander

Die Komplexität der Gesellschaft unter einem Dach – Theater als Biotop, in dem Lebensformen gut miteinander klarkommen

Das macht es einfach – ein Junges Schauspiel Hannover produziert für den Theater-Fan-Nachwuchs, das Schauspiel Hannover widmet sich verstärkt den immer älter werdenden Menschen, die den Theaterbesuch seit jeher treu in ihr Leben einbinden. Eine Ausdifferenzierung, die zur Saisoneröffnung auch auf etwas Verbindendes, eine Art Utopie des Intendanten Wilfried Schulz verwies: „Die ganze Spannweite und damit die Komplexität der Gesellschaft unter einem Dach“ – als aufmerksames, achtungsvolles Miteinander. Das Theater als Biotop, in dem „unterschiedliche Lebensformen gut miteinander klarkommen“.

Schulz meint damit den Trubel in den Gängen, auf den Treppen, in der Kantine des Hauses, wo Teenager „Romeo und Julia“ proben, den himmelhochjauchzenden, emotional irritierten Aufbruch ins Leben – und gleichzeitig 17 Menschen im Rentenalter das märchenhafte Endspiel „Ich bin nur vorübergehend hier“ (UA 7. Oktober) von Tankred Dorst einstudieren. Darin schaut der Tod einer demografisch ihm geweihten Gesellschaft zu, in der die Greise einfach nicht sterben wollen, sich selbst und einander das Fortexistieren erschweren sowie verbittert an der Vergangenheit herumleiden. Von den aktuellen politischen Diskursthemen ist das vom Dialog der Generationen als Motto der neuen hannoverschen Schauspiel-Saison eingeschrieben. Es wird auch beim „Faust“ (Premiere: 19. Oktober) zentral sein. Zwei Darsteller spielen den grüblerischen Geisteshelden: ein junger, der zeigt, was man sich wünscht, und eine alter, der zeigt, wie man zurückguckt. Lebensentwürfe und ihre Folgen.

Eröffnet aber wurde die Spielzeit mit Schillers „Die Räuber“. In Christoph Fricks Inszenierung entert die räuberische Jugend höchst fidel erst einmal die öde und leere Bühne, welche die Welt der Eltern bedeutet, und kann zwei Stunden lang damit nichts anfangen. Geile Böcke und zittrig verunsicherte Twens. Mittendrin die schillernd gegensätzlichen, in der Wirkung ihres Tuns aber so entsetzlich sich gleichenden Extremisten-Gebrüder Moor. Der selbstgerechte Romantiker und der zynische Nihilist. Die „Kanaille Franz“ kennen wir von anderen Bühnen bereits als intellektuellen Karrieristen: ein Darwinist, also Materialist, der sich den Vorstandsposten der väterlichen Welt ergaunert. Karl hingegen, ein verwirrter Idealist und herziger Robin Hood, will am guten Terror die Welt genesen lassen. Der typische 68er-Radikalinski. Weswegen Papa Moor auch gern in die Generation der Nazi-Verbrecher eingemeindet wird, die sich vom Täter zum Opfer stilisiert und als Identifikationsfigur für den Nachwuchs ausfällt. So auch in Hannover. Nur radikaler. Moor senior ist in depressiver Rückschau verfangen, infantil, alzheimernd, inkontinent – also nur mit Windel kostümiert. Keine Figur, die zur Revolte reizt. Keine, die Halt bietet. Eher Zeichen einer vaterlosen, sinnentleerten Gesellschaft. „Schlappes Kastraten-Jahrhundert“! Auch das natürlich kein Gegner mehr, weil der Nachwuchs selbst nur noch schlapp und hoffnungskastriert dahinwütet. So geht natürlich alles schnell den Bach, die Bühnenschräge runter. Kunstblut fließt. Der Rhetorik-Krieg wird ohne Augenzwinkern an die Rampe verlegt, das Klima der steilen Sprache bis zum ziellosen Gebrüll vergegenwärtigt. So dass Sturm und Drang wie Jugendschwachsinn wirkt, „Freiheit“ nur Geschwätz ist. Und die Räuberbande mit ihren Ballermännern für ein Superhelden-Plakat posiert.

Frick zeigt zur Saisoneröffnung gleich den Gegenentwurf zum Saisonmotto: Scheitern des Dialogs der Generationen. Eltern, die versagt haben, schwach und feige sind, und Kinder, die damit nicht klar kommen. Jugend ohne Gott: moralfrei, dafür spaß- oder machtgeil. Die Bühne ein Schlachtfeld der Implosion: Alt und Jung haben sich gemeinsam zugrunde gerichtet. Geduldig, wenn auch nicht ganz ohne Kopfschütteln, hat ein vornehmlich älteres Publikum diese Aufführung zur Kenntnis genommen. Türenschlagendes Herausrennen oder Abo-Kündigungen, das gebe es am Schauspiel Hannover schon lange nicht mehr, sagt Wilfried Schulz. „Die Zuschauer kommen wieder. Wir haben ein gutes Standing.“

Vor sieben Jahren hat der Intendant das Theater mit einem Zuschauerschnitt von 145.000 übernommen, in der letzten Saison wurden allein in Hannover 198.000 Besucher gezählt, was einer Auslastung von 83 Prozent entspricht. Das sind Spitzenwerte, die gehalten werden sollen. Aber muss es sich bei den neun Premieren auf der Schauspielhausbühne um acht Neuinszenierungen alter, kanonischer Stücke handeln? Nur ein schweinigelnder Text aus der Worteschmiede Feridun Zaimoglu/Günter Senkel, mit dem sich Franz Wittenbrink musikalisch verlustieren wird („’68 ff.“), durchbricht die Klassiker-Phalanx. „Viele Klassiker wollte ich einfach noch in Hannover machen“, erklärt Schulz sein „Lustprinzip“ bei der Spielplangestaltung. Er wird 2009 ans Staatsschauspiel Dresden wechseln. So ist diese Saison der Anfang vom Ende der Ära Schulz. JENS FISCHER