Rauschende Ohren, rauschendes Hirn

Die Installation „One Hundred Fish Fountain“ des Künstlers Bruce Nauman ist ein spektakulärer Springbrunnen. Der sorgt für angenehm feuchtwarme Atmosphäre in den Räumen der hannoverschen Kestnergesellschaft – und wird mit dem plötzlichen Versiegen des Wassers zum abgründigen Kunstwerk

von Jens Fischer

„Hallo?“ Es rauscht. „Ist dort …?“ Es umtost den Menschen am anderen Ende der Leitung. So muss es geklungen haben, wenn im einstigen Goseriedebad Hannovers der Bademeister zu telefonieren versuchte. Seit nunmehr zehn Jahren hat dort aber die Kestnergesellschaft ihre Museumsräume bezogen. Trotzdem hört man es spritzen und sprudeln. Regnet es bedrohlich hinein? Steht der Mann in der Telefonzentrale unter der Dusche? „Nein, nein, das ist wegen der Kunst“, durchdringt eine Aussage das Plattern.

Kunst also als Kommunikationsverhinderin? Selbst Führungen verdrücken sich derzeit in die hinterste Ecke der Ausstellungssäle, um überhaupt Verständigung zu ermöglichen. Aber alle nehmen das freudvoll hin. Ist es doch Folge des Coups, das Werk eines der einflussreichsten und gefragtesten lebenden Künstler zeigen zu können: Bruce Naumans „One Hundred Fish Fountain“. Er wurde nach seiner Erstpräsentation, 2005 in Kanada, für 2,5 Millionen von einem US-amerikanischen Sammler gekauft und jetzt erstmals ausgeliehen.

Die Wandlung des Malers Nauman zum Theater-Performer, zum Pionier der Videokunst und Multimedia-Installation, zum Schöpfer von Masken, Hologrammen und flackernden Neonskulpturen – all das machte ihn zum Superstar der Szene. Nauman sprengt das auratisch auf sich bezogene Kunstwerk und öffnet es für die Rolle des Betrachters als Darsteller.

In Hannover ist das zu erleben am spektakulär dimensionierten Springbrunnen. Für ihn wird das Museum mit Teichfolie und reichlich Wasser zum Bassin ausgestaltet. Von der Decke herab hängen Fischskulpturen. Durch ein Infusionsschlauch-Gewirr wird Wasser in ihren Leib gepumpt, aus Mäulern wieder ausgespien. Auch quillt es durch Löcher in Augen, Kiemen, Rumpf und Flossen. In kümmerlichen Strahlen, zierlichen Bögen, imposanten Fontänen.

Lustig, putzig, kindergerecht – und für angenehm feuchtwarme Atmosphäre im Museum sorgend. Denkt man. Bis plötzlich der Wasserkreislauf versiegt, das Rauschen in ein gequältes Tröpfeln übergeht. Kunst kaputt? Nein, Ruhe zum Nachsinnen. Genauer hingucken. Aus dem verführerisch harmlosen Äußeren wird handstreichartig ein abgründiges Kunstwerk.

Das friedvolle, geräuschpralle Geplätscher, die besinnliche Springbrunnenidylle der Renaissance- und Barockbrunnen – alles nur ironisches Zitat. Die sprudelnden Felchen, Barsche, Welse wurden einst im Lake Michigan geangelt, gemordet und in Bronze verewigt. Natur wird Kultur. Abgüsse von Leichen spritzen jetzt ihr Lebenselement, das Wasser, aus sich heraus. Eine existenzielle Metaphorik, das Leben im Zeitraffer – oder wie es in einem der ausgezehrten Sätze des von Bruce Nauman veehrten Samuel Beckett heißt: „Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick, und dann von neuem die Nacht.“

Die Hölle, sich selbst und seinem Tod nicht entkommen zu können, dafür hat kaum einer so eindringliche Räume geschaffen wie Bruce Nauman. Wer Spaß am Weitergrübeln und Herumassoziieren hat, kann den fliegenden Fischschwarm auch als Gesellschaftsbild rezipieren: die Masse zwängt den Einzelnen in seine Position. Mal mehr, mal weniger Nähe suchend. Gewundene Außenseiter, verschlängelte Kleingruppenwesen, gekrümmte Lachse im Barschteich. Eine heterogene Gruppe versucht nach bestimmten Gesetzen miteinander auszukommen.

Und dann ist all das natürlich auch noch ein Selbstbildnis des Künstlers. Vom frühen „Selfportrait as a fountain“ (1966/67), auf dem Nauman Wasser aus sich herausspuckt, bis hin zur Rauminstallation „Venice Fountains“ auf der diesjährigen Biennale, wo Nauman unablässig Wasser aus Abgüssen zweier Köpfe in zwei Plastikwaschbecken rinnen lässt, inszeniert sich der Künstler immer wieder als Brunnen: sprudelnd vor Ideen, als Quelle der Kreativität.

Wer bei all dem Springbrunnendenken auch mal Lust auf einen dezent dadaistischen Gag hat, wird ebenfalls fündig. Man kann nachzählen: die „One Hundred Fish Fountain“ besteht nur aus 97 Fischen. Ein Geheimnis, das nichts bedeutet? So verlässt man die Brunnenkunst mit einem diffusen Gefühl heiterer Beklommenheit. Die Ohren rauschen wie das Hirn. Der Lärm des Alltags vor den Museumstüren umfängt einen tröstend. Die Ruhe dieser Hauptverkehrsstraßen!

Bruce Nauman: One Hundred Fish Fountain. Bis 4. November in der Claussen-Halle der kestnergesellschaft, Goseriede 11, Hannover