: Blumen gießen
Der Nachbar ist weg
Milan ist verschwunden. „Könntest du bitte nach der Post und nach den Blumen schauen“, hatte er Katharina gefragt und ihr die Wohnungsschlüssel gereicht. Klar, kleiner Nachbarschaftsdienst, dachte sie. In gut zwei Wochen wollte Milan zurück sein.
Seit Anfang Juni also, da ging Milan auf und davon, gießt Katharina Blumen, lüftet, leert den Briefkasten und denkt oft an ihren Nachbarn, den sie übrigens überhaupt nicht kennt. So langsam allerdings kommt sie ihm näher. Über seine Post. Da ist, zum Beispiel, Vattenfall. Vattenfall schreibt regelmäßig, obwohl Vattenfall sicher von Milan ebenso wenig hört wie Katharina. Auch das Jobcenter versucht zu korrespondieren, und schwere Briefe eines Kreditinstituts sind eingetroffen, Marke: unverzüglich öffnen oder mit neuer Anschrift zurück. Alle Umschläge lagern unversehrt auf Milans Küchentisch. Neulich schrieb ein Gerichtsvollzieher, und er schrieb gleich ein weiteres Mal, weshalb Katharina mutmaßt, Milans Lage müsse misslich sein und sei es wahrscheinlich schon länger und habe mit Euros zu tun, respektive fehlenden.
Milan selbst meldete sich auch. Er schickte Karten. Die eine kam Ende Juli. Es ginge ihm gut und vielen Dank für die Hilfe. Mit der zweiten kündigte er seine Rückkehr im September an. Hätte er eine Anschrift hinterlassen, würde auch Katharina sich äußern. Erzählen, dass der Gummibaum an frischen Trieben arbeite, der schlanke, lange Kaktus hingegen eingeknickt sei und nun flach auf dem Fensterbrett liege, trotz allem aber wilde Blüten treibe, würde sie schreiben, und dass Vattenfall mittlerweile das Licht ausgeknipst habe und sie die Wohnungsschlüssel in seinen Briefkasten werfen werde bei ihrem Auszug.
GUNDA SCHWANTJE