bücher für randgruppen : Chaostage auf Sylt – und eine Entdeckung: ein Buch über die große Valeska Gert
Den Monat September verbrachte ich auf Sylt. Dort hat die Kuratorin Indra Wussow mit dem „Kunst: Raum Sylt-Quelle“ den vielleicht einzigen öffentlichen Ort der Insel geschaffen, an dem zeitgenössische Kunst und Literatur gepflegt werden. Ihre Kulturleistung findet in einer sozialen Umgebung statt, wo die Rituale und Codes der Normalität höchste Wertschätzung genießen.
Als ich mit zwei Berliner Freunden die „Samoa-Strand-Sauna“ besuchen möchte, mustert uns Betreiber Hille eindringlich. Nach längerem Schweigen fragt er mit leerem Blick, ob auch „sicher alles sauber bleibt?“ Auf die Gegenfrage: „Wie meinen Sie das?“ erwidert er: „Ich glaube, wir verstehen uns schon ganz gut …“ Ob nun Filzläuse, Krätzmilben, Schweiß, Sperma oder ganz gewöhnlicher Straßendreck gemeint waren – wir werden es nie erfahren. Auf jeden Fall möchte der Saunachef nichts Genaueres verraten, und weder Kurverwaltung noch Sylt-TV wissen auf Nachfrage, was der Saunabetreiber denn gemeint haben könne. Plötzlich wird jedoch klar, warum ganze Horden von Punks in der Vergangenheit über den Hindenburgdamm nach Sylt strömten, um dort ihre „Chaostage“ abzuhalten. Nirgendwo in Deutschland scheint sich so viel Normalität zu versammeln, um durch gegenseitige Beobachtung Divergenzen mit dem Gegenüber ausfindig zu machen.
So ist es wohl auch kein Zufall, dass die interessanteste Sylter Künstlerin auf der Insel selbst so gut wie gar nicht vorkommt. Keine Straße auf Sylt ist nach ihr benannt, ihr legendärer Veranstaltungsort „Ziegenstall“ wurde sofort nach ihrem Tod abgerissen, der Nachlass entging nur knapp der Müllabfuhr. Die Rede ist von der Tänzerin und Autorin Valeska Gert: Deutschlands Proto- und Metapunkerin.
Überall spielte sie mit, bei Bertolt Brecht, in den Filmen von G. W. Pabst, Federico Fellini und Ulrike Oettinger. Volker Schlöndorff widmete Valeska Gert 1977 ein Porträt – leider zerquatscht er im Off ihre beeindruckende Tanznummer als KZ-Aufseherin Ilse Koch. Die „Grotesk-Tänzerin“ war also immer da und ist doch nicht wirklich dabei. Den Dadaisten war sie zu expressiv, den Surrealisten zu dadaistisch, den Avantgardisten der Tanzszene zu avantgardistisch, zu sehr Kunst, den Expressionisten zu realistisch und so weiter. Überhaupt war sie insgesamt viel zu eigenwillig, unkategorisierbar.
Es ist ein großes Verdienst der Autorin Susanne Foellmer, dass sie sich dem Phänomen Valeska Gert aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive genähert hat. Präzise und spannend bettet sie die Künstlerin in einen Diskurs mit der historischen Avantgarde ein. Foellmers Beobachtungen zeigen anschaulich, wie sich Gert den Vereinnahmungen entzog und folglich aus dem Kanon der Künste und ihrer Sparten fiel – bis heute. So beschreibt die Tanzwissenschaftlerin, wie Gert in den 20er-Jahren ihre gesellschaftlichen Wahrnehmungen in getanzte Bewegung verarbeitet, ihren Körper zur sprechenden Skulptur macht. Im engen schwarzen Ganzkörpertrikot, versehen mit weißen Gamaschen, spielt sie mit den Rassifizierungen in der Körperwahrnehmung, parodiert ebendiese und treibt das Spiel wie niemand sonst auf die Spitze. Valeska Gert ist auch eine Pionierin und Vorläuferin der späteren Performance-Kunst. Sie durchschaut die Stereotype der visuellen Wahrnehmung, die Rituale der Normalität und setzt die Macho-Posen der Politredner in groteske Tänze um. Diese bleiben so allerdings keine bloße Parodie oder Kabarett, sondern weisen weit darüber hinaus. Valeska Gert ist politisch gesehen eine Anarchistin, eine große Künstlerin im Grenzbereich zwischen Tanzkunst und bildender Kunst. Eigentlich müsste in jeder deutschen Kunsthalle eine Valeska-Gert-Video-Lounge stehen, ein nationales Valeska-Gert-Museum existieren und auf Sylt mindestens eine winzige Valeska-Gert-Straße. WOLFGANG MÜLLER
Susanne Foellmer: „Valeska Gert“. transcript Verlag, Bielefeld 2006, 302 Seiten, zahlr. Abb., DVD, 28,80 Euro