: WIR:HIER
Kapitel 17
Laura stand sprachlos auf der Treppe der Bibliothek. Dieser saublöde Matteo war einfach weggerannt, hatte sie wie ein dummes Kind stehen lassen, weil sie nach seiner Mutter gefragt hatte. Sie lief in die Cafeteria und setzte sich mit einer Cola an einen Fensterplatz. Gut, das was eigentlich wie ein lockerer Spruch klingen sollte, mit der fetten Mutter und so, da hatte sie möglicherweise den falschen Ton angeschlagen, das war beleidigend. Aber sie hatte geglaubt, mit ihm eine Ebene gefunden zu haben, auf der sie Witze machen könnten. Sie kapierte es nicht. Über alles Mögliche darf man sich lustig machen, aber Jungsmütter sind heilig. Was für ein Unsinn. Na ja, andererseits: Wenn seine Mutter nun echt behindert war? Und er so ausflippte, weil sich alle über die lustig machten? Das konnte nicht sein, sie war jetzt seit fünf Jahren mit ihm in einer Klasse, das hätte sie mitbekommen. Vielleicht wurde er verprügelt? Vom neuen Freund der Mutter missbraucht? Laura erinnerte sich an Mara, die bis zur 9. in ihrer Klasse war. Die wurde, nachdem ihre Mutter einen neuen Typen hatte, immer stiller, trug plötzlich andere Kleidung, und einmal wurde sie erwischt, als sie sich auf dem Schulklo geritzt hatte. Kurz danach wechselte Mara die Schule.
Bei Matteo lief was anderes schief. Matteo war kein Opfer. Passte einfach nicht. Aber was sonst? Laura schlug sich auf den Mund: Krebs! Natürlich. Matteos Mutter war todkrank. Darüber wollte er nicht sprechen. Und sie bohrte immer wieder nach. Sie nuckelte an ihrer Flasche, blickte durch die große Glasfront auf die Potsdamer Straße unter ihr und stellte sich vor, ihre eigene Mutter würde sterben. Aber entgegen ihrer Erwartung löste dieser Gedanke keinerlei Traurigkeit in ihr aus. Jetzt ging es Laura richtig schlecht. Erst so komplett unsensibel gegenüber Matteo und nun auch noch feststellen müssen, dass sie ein eiskaltes Miststück war. Sie nahm einen letzten Schluck, stand auf und ging durch die Glastür auf den Bibliotheksflur, als Matteo plötzlich wieder vor ihr stand.
„Sorry.“
„Okay.“ Sie war so froh!
Eine Stunde später rauchten ihnen die Köpfe. Sie hatten die Tunnelexpertin gefunden. Den geklauten Plan zeigten sie ihr nicht. War auch nicht nötig, denn die Frau empfahl einen ganzen Stapel Bücher, in denen ähnliche Pläne abgedruckt waren.
„Von wegen total geheime Karten. Dein Cousin ist eine Vollpfeife“, zischte Laura in Matteos Ohr.
Trotzdem erfuhren sie mehr als genug. Der Anhalter Bahnhof und der dazugehörige Bunker war in den letzten Kriegstagen im April 1945 überfüllt mit etwa zehntausend Flüchtlingen, ausgebombten Berlinern, Verletzten, Soldaten aus dem Volkssturm und versprengten Regimentern, die versuchten, Berlin vor den Russen zu verteidigen, obwohl die schon längst in der Stadt waren. Weil immer mehr Menschen in den Bunker flüchteten, wurden alle Eingänge bis auf einen zugemauert. Es herrschten katastrophale Zustände, man konnte nicht auf die Straße, dort wurde geschossen, es gab kaum etwas zu essen, viele waren verletzt, manche brachten sich aus Angst vor den Russen um, Leichen konnten nicht weggebracht werden und zusätzlich gab es Streit zwischen SS-Leuten, die den Bunker verteidigen wollten, und einer Gruppe von Ärzten und Krankenschwestern, die versuchten, ihn als Rot-Kreuz-Lager zu kennzeichnen und damit zu schützen.
In der Nacht zum 1. Mai 1945 fiel der Strom aus, damit auch die Lüftung, die Temperatur stieg auf über 60 Grad. Am Morgen musste der Bunker evakuiert werden. Die Menschen sollten durch die S-Bahn-Tunnel zum Stettiner Bahnhof laufen. Nur war die S-Bahn völlig überfüllt von Leuten, die im Bunker keinen Platz mehr gefunden hatten. Am 2. Mai kapitulierte Berlin. Ein paar Nazis, die das nicht wahrhaben wollten, kämpften weiter. Ein Kommando hatte sich in die Tunnel zurückgezogen und sprengte eine wichtige Wasserpumpe, wodurch die gesamten U- und S-Bahn-Tunnel innerhalb kurzer Zeit völlig unter Wasser standen. Die Menschen versuchten natürlich zu fliehen, viele schafften es aber nicht. Die Zahl der Toten ist ungewiss, die Angaben schwanken zwischen fünfzig und fünftausend. Alles unsicher, Berlin war in diesen Tagen voller Leichen, um die sich keiner scherte.
„Und was ist heute davon übrig?“
„Ihr meint, außer der S-Bahn und dem Hoch-Bunker nebenan?“ Matteo und Laura nickten.
„Kann man nicht genau sagen. Jedes Mal, wenn in der Umgebung vom alten Regierungsgelände in der Erde gebuddelt wird, stößt man auf Überraschungen. Viele Pläne sind verbrannt, andere ungenau. Mit ein bisschen Fantasie kann man es sich so vorstellen, dass unter der Stadt eine zweite, total chaotische, existiert. S- und U-Bahn-Tunnel kreuzen alte Versuchsstrecken und tote Gleise. Dazu eilig angelegte Bunker, Abwasserrohre, Notausgänge von Luftschutzkellern, einfache Versorgungsanlagen und Rohrposttunnel, neben dem Anhalter Bahnhof stand eine große Post.“
„Wo genau?“
„Zwischen Hallescher und Anhalter Straße. Die ist aber abgerissen, da ist im Moment eine Brache.
„Interessant. Und gibt es noch Zugänge zu den Tunneln?“
Die blonde Frau sah die beiden prüfend an. „Referat, ja? Dafür wollt ihr ganz schön viel wissen. Baut keinen Mist, das ist alles einsturzgefährdet. Und nein, es existieren keine Zugänge mehr. Jedenfalls keine, von denen ich euch erzählen würde. So, ihr Mäuse, und jetzt ab mit euch.“
Draußen teilten Matteo und Laura den ausgeliehenen Stapel Bücher auf.
„Jede Wette: Da gibt es einen Eingang. Und wir finden den.“
Berlin war in diesen Tagen voller Leichen, um die sich keiner scherte
■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de