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Archiv-Artikel

Ortstermin: Eine Gemeinde diskutiert ihren Namenspatron Der Gründer Bremerhavens war Antisemit

In der Reihe „Ortstermin“ besuchen AutorInnen der taz nord ausgewählte Schauplätze am Rande des Nachrichtenstroms

„Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen.“ Es mag passenderes christliches Liedgut zum Auftakt eines Vortrags geben. Doch Andreas Lennert sah dem auf der Gitarre schrammelnden Pastor zu seiner Rechten den Fauxpas nach.

„Theologischer Stammtisch“ nennt sich die Runde, die sich regelmäßig in der mäßig gemütlichen Gemeindestube der Großen Kirche in Bremerhaven unter Neonröhren versammelt, um über Glaubensfragen zu brüten. Diesmal ging es jedoch um den Namenspatron des eigenen Ladens.

Die Große Kirche ist zwar die größte Kirche Bremerhavens, aber der neogotische Bau heißt offiziell „Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche“. Und dieser Johann Smidt war eben nicht nur Bremer Bürgermeister von 1821 bis 1857, Gründer Bremerhavens, Theologe und ein nach zeitgenössischen Berichten begnadeter Diplomat, sondern auch ein glühender Antisemit. Einer der ersten „Vertreter des modernen Antisemitismus“, wie zum Beispiel Wolfgang Wippermann sagt, der nicht nur geschichtsbewanderter Kronzeuge bei Kerner gegen Eva Herman war, sondern in der Großen Kirche geheiratet hat. Gäbe es den bekannten Geschichtsprofessor von der Freien Universität Berlin nicht, müsste man Lennert als Pionier bezeichnen. Abgesehen von den beiden schweigt sich die lokale Geschichtsschreibung nämlich beredt über Smidts Antisemitismus aus. Hier und da tauchen mal Fußnoten auf, mehr aber auch nicht.

Und so trauen viele ihren Ohren nicht, als Andreas Lennert loslegt und die Geschichte des Judenhassers Smidt erzählt, nach dem die Bremerhavener Variante des Jungfernstiegs benannt ist und der auf dem 300 Meter entfernten Theodor-Heuss-Platz als Denkmal in absolutistischer Geste gen Wesermündung zeigt – ein Ausdruck der Heldenverehrung. Und dann kommt da so ein Bremer daher und pinkelt dem ans Bein, natürlich nur im übertragenen Sinne.

Pastor Frank Mühring sagte das, was Kirchenleute so sagen: „Wir möchten mit dieser Veranstaltung zeigen, dass wir die Augen nicht verschließen.“ Und so öffnete der studierte Historiker und pensionierte Gymnasiallehrer Lennert einem betagten Auditorium die Augen. Er erzählt davon, wie Smidt die Juden als „klettenartige Individuen“ bezeichnete, die einen „furchtbaren Staat im Staate bilden“. Dass ein Nazi-Hofschreiberling Smidt in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts für dessen aus Nazi-Sicht fortschrittliche Judenpolitik posthum lobte, dass der Mann eine „judenreine“ Stadt wollte – allerdings auch, dass er mit seiner Politik nicht ganz durchkam.

Die politische Großwetterlage machte dem Judenfeind von der Weser das antisemitische Tagesgeschäft schwer. Umliegende Gebietskörperschaften signalisierten, dass sie nicht bereit seien, Juden aufzunehmen. Gesandte beim Deutschen Bund warnten vor Unruhen. So konnte Smidt im Wesentlichen nur in Bremen selbst unverhohlen restaurativ wirken und die liberalen Errungenschaften der napoleonischen Zeit beseitigen. Die Juden wurden zu Fremden in der eigenen Stadt.

Gerade Bremen betont bis heute gerne sein angeblich liberales, weltoffenes Erbe. Lennert vermeidet es, offen zu sagen, dass eine gute Portion Bigotterie im Umgang mit Smidt steckt. Er erwähnt aber gerne, dass die stolze Hansestadt zu demokratischen Reformen stets eher gedrängt werden musste, als dass sie diese von sich aus betrieben hätte.

Ein erstaunlicher Abend: Alte Menschen bekommen von einem Gymnasiallehrer ein neues Kapitel ihrer Heimatgeschichte serviert. Niemand tappt in die „Autobahn geht gar nicht“-Falle und bringt hanebüchene Vergleiche mit der NS-Zeit. Im Gegenteil: Pastor Dirk Scheider vergleicht das antisemitische Klischee vom Juden als geldgierigem Raffzahn klug mit Motiven der Globalisierungskritik.

Und so kann der andere Pastor, Frank Mühring, abschließend sagen, dass der Referent einen „Pfeiler in den Boden gerammt“ habe und dass man vielleicht sogar eine Hinweistafel vor der Kirche in den Boden rammen müsste, um auf den Judenfeind Smidt hinzuweisen. Und auch beim Abschlusslied passt jetzt alles: „Der Mond ist aufgegangen“.JAN-PHILIPP HEIN