: Blöde Wende
FILM Alles war gut für den Jugo in der Mauerstadt, bis zum Mauerfall: „Dragan Wende – West Berlin“ erzählt von einem flotten, jäh abgebremsten Leben
Die meisten Leute, die die Zeit vor dem Fall der Mauer für die gute alte halten, haben bis 1989 in der DDR gelebt. Deshalb werden sie „Ostalgiker“ genannt. Den Protagonisten des Dokumentarfilms „Dragan Wende – West Berlin“ müsste man also „Westalgiker“ nennen. Er lebte auf der anderen Seite der Mauer und sagt heute: „Vor der Wende war alles besser!“
Dragan Wende war 15, als er 1975 aus Jugoslawien nach Westberlin kam, wo sein Vater arbeitete. Er entdeckte bald, dass er sich mit seinem Pass, der ihn als einen Staatsangehörigen der Alliierten auswies, freier zwischen Ost und West bewegen konnte als die Einheimischen.
Im Film erfährt man auch, wie er zusammen mit Westberliner Jugokumpels schnelles Geld machte: Sie brachten Westprodukte und Hartgeld in die Hauptstadt der DDR – und Dinge, die man im Osten preiswert bekam, in den Westen. Sie parkten Diebesgut auf der jeweils anderen Seite der geteilten Stadt und entzogen sich so dem Zugriff der Polizei. Und sie brachten Westkunden mit preiswerten Ostprostituierten zusammen.
Die Kundschaft fand Dragan Wende nebenbei. In den 1970ern und 80ern arbeitete er als Barkeeper, Garderobier, Kellner und Türsteher in allen wichtigen Bars und Clubs Westberlin. Bis heute kennen ihn alle aus dem Nachtleben von damals. Im Film hat so auch der Exclubbesitzer und Edelplayboy Rolf Eden einen Auftritt, der dann auch 2013 zur Berliner Premiere von „Dragan Wende – West Berlin“ kam.
Am armen Ende
Die 90er hat Wende dabei weniger gut überstanden als Eden. Zwar wohnt er nach wie vor am Kurfürstendamm und würde es auch nie darunter machen. Aber seine Einzimmersozialwohnung liegt am armen Ende der Westberliner Flaniermeile. Und nach einigen Pleiten mit eigenen Läden bedient er nicht mehr in hippen Clubs, sondern sammelt nun als „Reinschmeißer“ vor einem billigen Puff Kunden von der Straße ein.
Über die Grenze der Ex-DDR wollte Dragan Wende nie wieder einen Fuß setzen – bis er die Filmemacherin Lena Müller traf. Die Tochter eines Deutschen und einer Jugoslawin wuchs in Westberlin auf und zog später nach Belgrad, wo sie Dragan von Petrovic, den Koregisseur des Films, kennenlernte.
Beide arbeiten viel mit dem Kameramann Vuk Maksimovic zusammen, der immer wieder von seinen verrückten Westberliner Onkel Dragan erzählte, über den er schon immer einen Film machen wollte. So wurde „Dragan Wende – West Berlin“ auch zur Geschichte eines jungen Mannes aus Serbien, der mit der Kamera im Gepäck seinen berühmten Verwandten kennenlernen will – und dabei einen Mann trifft, dem der Mauerfall das Leben zerstört hat.
Der Film zeigt Dragan Wende in seinem Alltag. So, wie der nun mal ist. Dabei können die Zuschauer ein schauspielerisches Naturtalent entdecken. Dragan Wende gibt die ganze Palette von galant bis bitterböse. Und bleibt dabei immer authentisch. Ein Mensch, dem man abnimmt, wenn er über sein offensichtliches Alkoholproblem sagt: „Ja, ich trinke. Na und?“
„Dragan Wende – West Berlin“ ist aber auch eine Multimetapher für die verschwundene Mauerstadt, die Einwanderung dorthin und die Folgen des Endes der DDR. Eine Tragikömödie, die für heutige Teenager so viel zu bieten hat wie für alternde Gastarbeiter, Bildungsbürger, die gerne Dokumentationen gucken, Jugofilm-Fans, das I-love-marginals-Publikum oder Arthousefilm-Liebhaber.
Seit 2013 lief der Film auf rund fünfzig Festivals und wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Max-Ophüls-Preis. In Deutschland, Frankreich, Schweden, Portugal, Ukraine wurde der Film im Fernsehen gezeigt. In Exjugoslawien hat die Dokumentation bisher das slowenische TV gesendet, als Nächstes ist Serbien an der Reihe.
Und als Feedback bei Screenings in dem Land, aus dem Dragan Wende vor vierzig Jahren nach Westberlin kam, gibt es – abseits von denen, die immer mosern, wenn der wilde, migrantische Unterklassenbalkan porträtiert wird – vor allem viel Lachen. Und nostalgische Erinnerung an den eigenen untergegangenen Staat.
Kein Wunder: Wende lebte in Berlin ja auch einen jugoslawischen Traum. Den Traum von einem besseren Leben zwischen den Systemen. RÜDIGER ROSSIG
■ „Dragan Wende – West Berlin“ ist heute am Samstag um 19.30 Uhr in Anwesenheit der Regisseure im City Kino Wedding, Müllerstraße 74, zu sehen