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Archiv-Artikel

Blätter, kein Wald. Sprache, kein RauschSo schmerzhaft verloren

KURZ UND GUT Ein Leben als Affenarsch, wenn alles den Bach runtergegangen ist, die Suppe und der Hass eine Analogie ergeben, der Kapellmeister in Ekstase ist, der Aufstand in der Poesie liegt und man mal nicht ebenso befreit wird

Wie bei seinem ersten Roman, „Herkunft“, und seinem Film „Die Quellen des Lebens“ erzählt Oskar Roehler mit der Geschichte von Robert auch seine eigene Geschichte. Er ist der Sohn der Schriftstellerin Gisela Elsner, die ihn vernachlässigte, und von Klaus Roehler, RAF-Sympathisant, Schriftsteller und Lektor. Diese Kindheit muss ein Desaster gewesen sein. Durch Humor und grelle Übertreibung schafft der Filmemacher Oskar Roehler eine wohltuende Distanz zu dieser eigentlich schrecklichen Geschichte. Als Romanautor ist Roehler schonungslos.

„Mein Leben als Affenarsch“ begleitet Robert zwischen 23 und 25. Die Mutter lebt in München auf Rohypnol und Captagon, der Vater in Darmstadt säuft und hadert. Robert geht nach Westberlin, da ist Punk, das SO36. Er nennt sich Dichter, ohne zu schreiben, lebt von Sozialhilfe, putzt in einer Peepshow das Sperma von den Scheiben. Mit der Prostituierten Nina hat er eine Beziehung, Momente von Glück, viel Sex auf Speed und immer mehr Gewalt.

Icherzähler Robert erzählt ohne Distanz, ist so schmerzhaft verloren, so kaputt und großspurig, voll Verachtung und Wut, dass diese erzwungene Nähe der Leserin einiges zumutet. „Ich bin retardiert“, sagt er, „Ich bin in mehreren Stufen – unschuldiger Jüngling, ausgebuffter Ficker, psychopathischer Schläger – nun wieder zu meinem Urzustand zurückgekehrt, dem des hospitalistischen Kindes.“

Als Robert seine Mutter in einer Fernsehtalkshow über ihn sprechen hört, ist das ein Tief- und Wendepunkt, von dem aus er sich endlich entwickeln kann. Ein sehr, sehr schwacher Hoffnungsschimmer. ANGELA LEINEN

Oskar Roehler: „Mein Leben als Affenarsch“. Ullstein, Berlin 2015, 224 Seiten, 18 Euro

Wenn alles den Bach runtergeht

Als Erstes waren zwei Buchstaben weg, eine Endung: -ne, und aus Marianne war Marian geworden. Das klang weniger bieder, und Marian war eine erfolgreiche Modedesignerin mit eigenem Atelier und eigenem Laden und einer großen, schönen Wohnung in Wien. Alles den Bach runtergegangen, dank Wirtschaftskrise, Fehlkalkulationen und Größenwahn.

Nicht ohne Grund zieren Pilze das Cover von Doris Knechts neuem Roman, denn was darin kunstvoll ausgebreitet wird, ist ein Rhizom, ein Riesengeflecht von privaten, sozialen und ökonomischen Abhängigkeiten. Was Marian, nun 41 Jahre alt, nach der Pleite geblieben ist, ist eine von der Großtante geerbte Hütte auf dem Land. Dort beginnt sie ein neues Leben und reflektiert in einem inneren Monolog zugleich das alte.

Doris Knecht tappt nicht in die Idyllenfalle; sie hält die Balance: Das nur zu Beginn unfreiwillige Leben in, mit und von der Natur wird in all seinen Beschwernissen und Widrigkeiten geschildert, ohne dass daraus eine dumpfe Provinzbeschimpfung würde. Andererseits aber ist „Wald“ auch eine subtile Attacke auf die urbane Bio-Wochenmarkt-Gemeinde mitsamt den Hipster-Bartträgern.

Knechts von Austriazismen durchsetzte Sprache entwickelt schnell einen Sog, in dem Marians Gefühle durcheinanderwirbeln: Scham und Minderwertigkeit, Trauer und Verzweiflung – und möglicherweise auch eine zunehmende Erleichterung darüber, der Selbstoptimierungsmühle entkommen zu sein.

CHRISTOPH SCHRÖDER

Doris Knecht: „Wald“. Rowohlt Berlin, Berlin 2015, 272 Seiten, 19,95 Euro

Gewalt und Sprache

Eddy ist schwul, munkelt man hier im Dorf im Norden Frankreichs. Zwei Jungs auf der Schule speien ihm Rotz und Schmäh ins Gesicht, jeden Tag. Auch den Eltern schmeckt das gar nicht: dass Eddys Gestik wie die eines Mädchens wirkt. Dabei ist Eddy erst neun Jahre alt. Der Vater schuftet in der Metallfabrik bis zum Alkoholexzess. Die Mutter soll schon bald wieder zu Hause bleiben – obwohl auch sie sich damit brüstet, „Eier in der Hose“ zu haben. Karikierend gestrickte Figuren? Nein, die Eltern versuchen sogar, im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten, Eddy zu schützen. Klar aber, dass er dieser Enge irgendwann entkommen muss.

Eddy ist das frühere Ego des erst 22-jährigen Autors Édouard Louis – zu Recht der neue Star der französischen Literatur. Gleich dieser autobiografische Debüt-Roman hat 200.000 Leser in Frankreich gefunden. Inzwischen treibt Louis an der Pariser Elitenschmiede ENS seine soziologischen Studien zu Pierre Bourdieu. Effektvoll kollidieren im Roman zwei Sprachniveaus: Da ist die Sprache der Proleten, die Eddy rezitiert – und die des resümierenden Erzählers. Der Übersetzer Schmidt-Henkel überträgt diese derben bis wohltemperierten Wortwechsel, eine große Stärke des Romans, auf den Punkt. Édouard Louis bringt Gewalt hochpersönlich zur Sprache – und wie sie sich in der Provinz-Tristesse bedrückend verstärkt. STEFAN HOCHGESAND

Édouard Louis: „Das Ende von Eddy“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Fischer, Frankfurt a. M. 2015, 208 Seiten, 18,99 Euro

Suppe und Hass auf den Staat

In „Hart auf hart“, T. C. Boyles neuem Roman, gerät der amerikanische Traum zur totalen Paranoia. Sarah und Adam heißen die Protagonisten. Sarah gehört der Souveraign-citizen-Bewegung an, einer extremen Form des Libertarismus. Sie lehnt den Staat ab, weil er von der Macht der Megakonzerne gesteuert sei. Was noch als Kapitalismuskritik durchgehen könnte, vermischt sich mit hanebüchenen Verschwörungstheorien über die Lügen der Medien.

Der junge Adam hält sich für die Wiedergeburt der Trapperlegende John Colter, der mehr Blackfeet umbrachte als irgendeiner sonst. Er lebt in einem selbst gebauten Bunker neben seiner Opiumplantage im Wald. Und während Sarahs Hass auf den Staat nur dann explodiert, wenn dieser ihr in die Quere kommt, stampft Adam als tickende Zeitbombe und bewaffnet mit chinesischen Sturmgewehren durch die Wälder Nordkaliforniens.

„Hart auf hart“ ist bedrohlicher Lesestoff. Man weiß, es wird zum Äußersten kommen, und ist fast erleichtert, dass Boyle zwischendurch mit der Ruhe eines Puppenspielers ein paar Seiten über Sarahs Kochkünste verliert. Wenn er sie Hühnersuppe servieren lässt, bekommt man etwas Zeit zum Durchatmen.

ANNE-SOPHIE BALZER

T. C. Boyle: „Hart auf hart“. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, München 2015, 396 Seiten, 22,90 Euro

Eine Voyeurin ihrer selbst

Titel und Covergestaltung können ganz schön trügen, so ist es im Fall von Julia Jessens Debütroman „Alles wird hell“. Okay, das Rapsfeld spielt eine Rolle, und ja, im Angesicht des Todes auf der letzten Seite scheint alles hell zu werden. Doch hat sich Protagonistin Oda bis dahin ihr Leben lang der Dunkelheit gewidmet, die sich von den unklaren Enden ihrer Einsamkeit ausdehnt. Wir begleiten sie als Kind, Jugendliche, Mutter und alte Frau, lernen ihre Familie kennen und ihre Ängste. Und Oda scheint immer dieselbe zu bleiben, jemand, der die Grenzen des behüteten Familienlebens untersucht, um sie dann zu überschreiten.

Autorin Julia Jessen, die lange Jahre als Schauspielerin arbeitete, hat mit Oda eine Figur entworfen, die eine Voyeurin ihrer selbst ist. Sie sieht sich beim Lieben und Verzweifeln zu. Mit seinem federnden Rhythmus zieht der Roman in die unberechenbare Gefühlswelt dieser Frau hinein, bei der man sich die erste Hälfte lang bloß wundert, wo das Ganze hinführen soll. Und plötzlich, nach dem zweiten Drittel, steht man mittendrin in einem fremden Leben, das man nicht so schnell wieder loswerden kann.

FATMA AYDEMIR

Julia Jessen: „Alles wird hell“. Kunstmann Verlag, München 2015, 304 Seiten, 19,95 Euro

Neue Einfallstore

Es wird noch mehr Rebellionen geben, mehr Krawalle, noch mehr Kriege, mehr Not, und es wird immer gewaltigere Massenmobilisierungen geben. Das ist sicher. So gewalttätig all dies jedoch auch sein mag und so groß die Räume sein mögen, die der Aufstand erfasst – es wird doch nur ein Überbleibsel einer Moderne und eines Klassenkampfes der Vergangenheit sein. Weder wird es zum Kern der Finanzabstraktion vordringen können noch die Richtung der automatisierten Maschinen verändern. Als Überreste werden die Körper zurückbleiben, die Empfindungen, Ereignisse, der Wille und der Zorn und die gewaltsame Verzweiflung. Das sind die finsteren Aussichten der Lage, wie sie Franco Berardi in seinem fulminanten Essay zum „Aufstand“ beschreibt. Resigniert ist sein Text aber trotz der finsteren Aussicht nicht, denn es geht ihm um das Erfassen des Kerns der Finanzabstraktion, um die Beschreibung des Algorithmus der neuen Ordnung des techno-linguistischen Kapitalismus, in den er versucht neue Einfallstore des Zufalls zu bauen im Sinn seines Buch-Untertitels: „Über Poesie und Finanzwesen“. CORD RIECHELMANN

Franco Berardi: „Der Aufstand“. Matthes & Seitz, Berlin 2015, 189 Seiten, 22,90 Euro

Das Modell und sein Maler

Ab 1911 war Walburga „Wally“ Neuzil vier Jahre lang die Gefährtin des Malers Egon Schiele. Sie unterstützte und förderte den Anfänger, vor allem indem sie seiner obsessiven erotomanen Motivik keinen Widerstand entgegensetzte, sondern ihm tabulos mit selbstbewusster Sinnlichkeit Modell stand. Als solches freilich galt die junge Frau, die Schiele viele Alltagsgeschäfte abnahm – unter anderem Korrespondenz und Kontakt mit Galeristen, Sammlern und Förderern –, mehr oder weniger als Prostituierte. Als Schiele 1915 eine bürgerliche Frau heiratet, verzweifelt sie nicht, sondern lässt sich im neuen Berufsbild der Krankenschwester ausbilden. Im Einsatz in Dalmatien stirbt sie 23-jährig 1917 an Scharlach. Die einzelnen Beiträge in dem vom Leopold Museum herausgegebenen Band analysieren Wally im Kontext der Zeit und der Wiener Verhältnisse und greifen damit sozialhistorisch über die bloße Biografie hinaus. BRIGITTE WERNEBURG

Diethard Leopold, Stephan Pumberger. Birgit Summerauer: „Wally Neuzil. Ihr Leben mit Egon Schiele“. Brandstätter Verlag, Wien 2015, 184 Seiten, 29,90 Euro

Mal alle befreien

„Unsagbare Dinge“ ist eine wütende und kluge feministische Kampfansage an den Neoliberalismus und die reaktionäre Geschlechterordnung, die ihn fundiert. Laurie Penny zählt zu der Generation, die im Schatten der Finanzkrise erwachsen und politisiert wurde. Eine Generation, der man vorgaukelte, dass dem die grenzenlose Freiheit winkt, der sich mit Haut und Haaren dem Liberalismus des Marktes unterwirft. Und die nun ernüchtert feststellt, dass die Emanzipationsversprechen dieses Systems – Wohlstand und Gleichheit der Geschlechter, Wahlfreiheit des sexuellen Begehrens und der Liebe – ein fiktionales Konstrukt sind, um uns auf ökonomischer Linie zu halten. Ein Konstrukt, hinter dem grottenalte Geschlechterrollen und heterosexuelle Zweisamkeitsideale lauern, denen immer weniger Menschen entsprechen, die aber nach wie vor das Modell abgeben, um in diesem System zu funktionieren. Penny legt diese Fiktionen offen und konstatiert einen sexistischen Backlash, der in der analogen wie der digitalen Welt mit teilweise atemberaubender Brutalität um sich greift. Dagegen setzt sie einen Feminismus, der mit der Befreiung der Frau die Befreiung der Menschheit anvisiert. Ein Feminismus, der ein vollständiger nur ist, wenn er die Ökonomie attackiert, die unserer (Unter-)Ordnung zugrunde liegt. EVA BERGER

Laurie Penny: „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“. Nautilus, Hamburg 2015, 283 Seiten, 16,90 Euro

Ganz schön verhottet

„Hotten“ und „Abhotten“ – in vielen Varianten gebrauchten die Swings im nationalsozialistischen Deutschland das englische „hot“. „Hot“ waren ihre verbotene Jazz-Musik und ihre unflätige Bekleidung – kurze Röcke für die Mädels, karierte Jacketts für die Jungs. Selbst die SS nahm es in den Wortschatz auf: „Die Kapelle spielte deutsche Schlager, die sie stark verhottete“, zitiert Historiker Sascha Lange einen SS-Mann, „der Kapellmeister arbeitet in Ekstase, mit krummem Rücken und verdrehten Augen“. Undeutsch und zersetzend war das Auftreten der Swings für die Nazis. Ihren Anhängern drohten brutale Strafen. In „Meuten, Swings und Edelweißpiraten“ porträtiert Sascha Lange diese und andere oppositionelle Jugendgruppen aus den nationalsozialistischen dreißiger und vierziger Jahren. Der Donkosakenkult der Bündischen, Motorrad fahrende Cliquen, Flugblätter verteilende Studenten – eine pluralistische Kultur des Aufbegehrens unter Jugendlichen während des NS-Regimes stellt der Autor mit Sachtexten, Interviews und Abbildungen dar. Auch unbekannten Gruppen spürt er auf: Die Bande um Walter Klingenbeck taggte in München regelmäßig Victory-Zeichen auf Straßenschilder. Wegen Hochverrats wurde ihr 19-jähriger Anführer 1943 zum Tode verurteilt. Ein Buch über den jugendlichen Widerstand in Nazi-Deutschland mit geistreichen Cliquen-Codes und tragischen Einzelschicksalen. SOPHIE JUNG

Sascha Lange: „Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus“. Ventil Verlag, Mainz 2015, 224 Seiten, 17 Euro

Tagebuch aus der Hölle

Als die Tschetschenienkriege 1994 ausbrechen, ist Polina Scherebzowa 9 Jahre alt. Das Mädchen lebt mit seiner Mutter in Grosny, der damals noch multinationalen Stadt. Während Polina ihr Tagebuch mit Notizen füllt – „Wir haben eine Suppe aus Hühnerbeinen gekocht … früher haben wir sie aus Hühnern gekocht … das war viel leckerer“; „ältere Schüler haben einem Mädchen den Stuhl auf den Kopf geschlagen, sie ist im Krankenhaus“ – ziehen immer dunklere Wolken über dem Nordkaukasus auf.

Tschetscheniens Präsident Dudajew verfolgt mit der Erlangung der Eigenständigkeit 1991 eine antirussische Politik, Islamismus vergiftet das Klima. Die Gewalt in der postsowjetischen Gesellschaft ist früh Gegenstand von Polinas Beobachtungen. Das Mädchen beginnt bereits mit neun Jahren, Literaturklassiker wie „Don Quijote“ zu lesen. Im September 1994 – zwei Monate bevor die Russen einmarschieren – notiert die Neunjährige einen Mord in der Nachbarschaft, ausgeübt von Kindern an einem Kind: „Er rief: Sie haben Wadik gefunden. Mama verstand nicht und ich auch nicht, und Sascha sagte: Witja und Waska haben ihn im Garten in der Scheune eingesperrt und angezündet. Er ist verbrannt! Lebendig.“

Da war noch Friedenszeit. Das fast 10 Jahre währende Inferno, das Polina im von Russlands Truppen im Dezember 1994 eroberten Grosny erlebt, steht noch bevor. In Grosny blieb wie heute in den Kriegsgebieten Syriens kein Stein auf dem andern, oder wie Polina schreibt: „Die Menschen sterben beim Wasserholen, auf der Suche nach Brot.“ Heckenschützen schießen auf Zivilisten, russische Panzer richten ihre Rohre auf Häuser voller Flüchtlinge. Auch Nachbarn plündern und vergewaltigen.

Polina Scherebzowa überlebt und mit ihr dieses unvergleichliche literarische Zeugnis. ANDREAS FANIZADEH

Polina Scherebzowa: „Polinas Tagebuch“. Dt. v. Olaf Kühl. Rowohlt Bln 2015, 576 S., 22,95 Euro