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Archiv-Artikel

Eine abgründige Romantik

PORTRÄT Die kulturelle Identität und die Anpassung an den Westen: Die türkische Künstlerin Nur Özalp verhandelt in ihren Collagen Sehnsucht und Verluste – ausgestellt in der Galerie bauchhund salonlabor

VON ESTHER SLEVOGT

Das Mädchen mit den traurigen Augen zum Beispiel. Es sieht den Betrachter aus einer Arbeit der türkischen Künstlerin Nur Özalp an: eine Art Wandteppich, ein überdimensionales Patchwork aus alten Stoffen und vergrößerten Fotografien, aus Schriftstücken, Spitzenbordüren und einer alten Postkarte von der Hafenstadt Izmir. All das scheint eine lineare Geschichte zu erzählen, die Geschichte des Mädchens eben, deren Lebensstufen man auf der Arbeit zu erahnen meint. Doch längst sind die Motive der alten Fotografien in den Stoff eingegangen wie das junge Mädchen in die Zeit.

Die Enge der Muster

Der melancholische Sog, der von den Bildern von Nur Özalp ausgeht, trügt. Die üppigen Designs und prächtigen Ornamente trügen ebenso wie eine gewisse Traumverlorenheit, die die abgebildeten Menschen auszeichnet. Männer und Frauen gleichermaßen, deren Fotografien die Künstlerin per Siebdruck auf alte Möbel- oder Kleiderstoffe druckt, sodass deren Design und die alten Fotografien sich gegenseitig durchdringen. So haben die Gesichter der abgebildeten Menschen plötzlich zarte Muster, werden am Ende selbst zu Ornamenten, deren gelegentlich fast plakative Spießigkeit manchmal auch das Gefühl für die Enge der von diesen Mustern beherrschten Lebensentwürfe vermittelt.

Die Fotografien und Schriftstücke sind zufällige Fundstücke. Selten kennt Nur Özalp die Menschen, deren Lebensspuren sie zu Tableaus einer Gesellschaft im Aufbruch verarbeitet hat. Belkis kennt sie zum Beispiel, die Nur Özalp als alte Frau Fotos und Dokumente ihres Lebens schenkte, die sie zu einer „Belkis“ überschriebenen Serie verarbeitet hat. Wir sehen Belkis als etwa zwölfjähriges Mädchen, im Garten vor einem schönen Haus. Gedruckt ist das Foto aus den späten vierziger Jahren auf einen zartgelben Seidenstoff mit einem seriellen Blattmuster, der einmal ein Sommerkleid gewesen sein könnte.

Ein anderes Bild zeigt die inzwischen etwa dreißigjährige Belkis mit ihrer Schwester vor einer aufdringlich gemusterten Tapete abgebildet, Anfang der sechziger Jahre vielleicht. Wiederum gedruckt auf einem stark gemusterten Stoff, sodass der Gesamteindruck des Bildes fast klaustrophobisch ist, so sehr beherrscht werden die Abgebildeten von der Ornamentik, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Da können die beiden Frauen sich mit ihrer eleganten, an der westeuropäischen Mode orientierten Kleidung und den glamourös geschminkten Gesichtern noch so sehr dagegen auflehnen.

Begegnung und Konflikt

„Die islamische Kunst hat ja lange nur das Ornament gekannt“, sagt Nur Özalp, als ich sie in ihrem Weddinger Atelier besuche. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts habe ein osmanischer Pascha seine beiden Söhne zum Studium nach Paris geschickt, wo sie mit gegenständlicher Kunst in Berührung kamen. Der Enkel dieses Paschas, Osman Hamdi Bey, ein bedeutender osmanischer Politiker und als Maler Pionier der gegenständlichen Kunst, gründete 1882 die Akademie der Schönen Künste in Istanbul, an der fast hundert Jahre später auch Nur Özalp studierte. Und so sind ihre Arbeiten bis in Material und Verarbeitungsweise höchst dialektisch gedachte Auseinandersetzungen mit Fragen von kultureller Identität und Geschichte.

Ihre Werke übersetzen die Auseinandersetzung der osmanischen Oberschicht mit der westeuropäischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts in die nicht immer ganz schmerzfrei verlaufenen Bemühung einer weltlichen türkischen Mittelschicht, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen eigener Tradition und dem amerikanisiertem westeuropäischen Lebensstil zu orientieren suchte. Eine Schicht, aus der Nur Özalp selbst stammt, 1953 in Izmir als Tochter eines Richters und einer Englischlehrerin geboren.

Seit diesem Wochenende zeigt die kleine Neuköllner Galerie „bauchhund“ Arbeiten der Künstlerin, die sowohl in Berlin als auch in Istanbul zu Hause ist. „Örtü“ ist die Ausstellung überschrieben, was übersetzt so viel heißt wie „Decke“. Denn Hauptmotiv ist eine alte blaue Tagesdecke aus der Aussteuer ihrer Mutter: auf den ersten Blick ein aufwändig gestepptes bürgerliches Prachtstück, wie es in den späten vierziger Jahren auch gediegene Gelsenkirchener Barockschlafzimmer hierzulande hätte zieren können.

Osmanische Nelken

Erst aus der Nähe fallen die zarten rosa Nelkenornamente auf, die den Stoff durchziehen – ein wichtiges Symbol der osmanischen Ikonografie, wie Nur Özalp sagt. Zu den aufgedruckten Fotografien gehört auch die jahrzehntealte Aufnahme einer Militärparade am 29. Oktober, dem türkischen Nationalfeiertag, Jahrestag der Gründung der modernen Türkei durch Atatürk 1923.

Die alten Stoffe und Fotografien atmen die alte Zeit und die Sehnsucht nach heimatlicher Geborgenheit. Die Gesichter der Menschen erzählen aber auch von der Fremdheit in den neuen Lebensentwürfen und den westlichen Garderoben. Vom Druck, den dieser Spagat zwischen Tradition und Emanzipation produziert haben muss. Und so kann man in Nur Özalps komplexen Kunstwerken viel über die türkische Kultur und Geschichte des 20. Jahrhunderts erfahren. Über den Kampf der Frauen um Identität und Selbstbestimmung. Von der Unauflöslichkeit des Konflikts, dass die Anpassung an den Westen und sein Ideal der offenen Gesellschaft nicht ohne Abstriche an der eigenen Identität zu haben war.

Özalps Bilder erzählen davon mit einer fast filmischen Bildkraft, sind von ungestümer impressionistischer Sinnlichkeit und abgründiger Romantik ebenso durchdrungen wie vom agitatorischen Pathos der Pop-Art. Man kann in diesen Bildern lesen. Aber man kann sich auch einfach nur in sie versenken.

■ Nur Özalp: „Örtu“. Siebdrucke, Collagen, Adaptionen. Bis 14. Januar 2012, Galerie bauchhund salonlabor, Schudomastrs. 38, Neukölln Öffnungszeiten: www.bauchhund.de