: Frieden aus strategischem Kalkül
Spät engagiert sich George W. Bush für den Nahen Osten. Die allgemeine Angst vor einer Radikalisierung in der Region könnte ihm in Annapolis nützen
1. Grenzen eines palästinensischen Staates. Die Palästinenser fordern den vollständigen Rückzug Israels aus dem Westjordanland und die Räumung aller jüdischen Siedlungen. Israel will dagegen, dass größere Siedlungen seinem Staatsgebiet zugeschlagen werden. Mögliche Lösung: Die Waffenstillstandslinie von 1949 wird entsprechend den israelischen Wünschen geändert, im Gegenzug erhalten die Palästinenser als Entschädigung Land, das bislang noch israelisches Territorium ist.
2. Palästinensische Flüchtlinge. Die Palästinenser verlangen ein Rückkehrrecht für Vertriebene, die nach der Proklamation des jüdischen Staates 1948 geflüchtet waren, sowie für deren Nachkommen. Israel lehnt dies ab und beharrt darauf, dass die Flüchtlinge auf dem Gebiet des künftigen palästinensischen Staates wiederangesiedelt werden müssten beziehungsweise an ihrem derzeitigen Wohnort bleiben sollten. Mögliche Lösung: Kompensationszahlungen an einen Großteil der Betroffenen und Rückkehrrecht für eine symbolische Zahl Vertriebener.
3. Jerusalem. Die Palästinenser wollen Ostjerusalem, einschließlich der Altstadt, als Hauptstadt ihres künftigen Staates. Israel bietet ihnen dagegen lediglich die Kontrolle über einige arabische Stadtteile im Osten an. Mögliche Lösung: Geteilte Kontrolle über die Stadt.
AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF
Erstmals spielt US-Präsident George W. Bush eine sichtbare Rolle im palästinensisch-israelischen Friedensprozess. Er empfing Vertreter Israels und der palästinensischen Verwaltung am Montag zu Vorgesprächen im Weißen Haus und wird an diesem Dienstag die Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis, im US-Bundesstaat Maryland, mit einer Rede eröffnen. Dort wird er betonen, dass der Frieden im Nahen Osten für ihn ein vorrangiges Ziel seiner verbleibenden Amtszeit bis 2009 ist. Nachdem der Präsident nahezu sieben Jahre lang den palästinensisch-israelischen Konflikt gründlich ignoriert hat, gibt sich die US-Regierung nun demonstrativ optimistisch, dass in Annapolis fruchtbare Verhandlungen über die Gründung eines Palästinenserstaates beginnen können.
Die Tagesordnungspunkte in Annapolis werden die gleichen sein wie in fast allen Nahost-Friedensgesprächen davor. Aber neue Bedrohungen in der Gesamtregion bringen größere Dringlichkeit in den Friedensprozess. Washington ist es daher gelungen, erstmals zahlreiche arabische Staaten mit an den Verhandlungstisch zu holen. Als bemerkenswert gilt, dass die USA sogar hochrangige Vertreter Saudi-Arabiens und Syriens auf ihre Seite des Atlantiks locken konnten. Damit hat es die Bush-Regierung geschafft, zur syrischen Regierung, die Washington als verlängerter Arm Irans gilt, einerseits Distanz zu halten, andererseits Damaskus nun in Annapolis eine Chance zu bieten.
Darüber hinaus hegen viele Beobachter für Annapolis aber wenig Zuversicht. Selbst konservative US-Kommentatoren wie Danielle Pletka vom American Enterprise Institute geben zu bedenken, dass US-Präsident Bill Clinton – der sich ganz anders als Bush persönlich und kontinuierlich im Nahen Osten engagierte – mit seinen Friedensbemühungen von Camp David im Jahr 2000 scheiterte. Damals regierte in Ramallah noch Jassir Arafat, den Bush vollmundig als „Terroristen“ beschimpfte. Heute hat es der gleiche Bush bei seinen Friedensbemühungen in Palästina mit einer offen islamistischen Hamas zu tun, die gar nicht an Frieden mit Israel denkt.
Ungünstig ist zudem, dass die letzten Beratungen von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas und Israels Premier Ehud Olmert kurz vor Annapolis keine Einigung für das gemeinsame Dokument ergaben, das die Grundlagen des neuen Friedensprozesses legen soll. Fraglich ist, ob sich Israel und die Palästinenser nun in Annapolis auf eine Erklärung einigen können – oder ob sie ihren Wunschkatalog für den Frieden jeweils allein vortragen und es die Rolle von US-Außenministerin Condoleezza Rice sein wird, das Abschlusskommuniqué zu formulieren. Dass am Mittwoch in Washington formelle Verhandlungen über ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern beginnen werden, hat der palästinensische Unterhändler Jassir Abed Rabbo immerhin noch kurz vor Konferenzstart bestätigt.
Jenseits seines zur Schau getragenen Optimismus steckt Bush in einer Zwickmühle. Frieden im Nahen Osten ist ein kaum zu erreichendes Ziel. Doch ohne nennenswerten Friedensprozess werden die Sicherheitsinteressen der Supermacht – Stabilität und Demokratie im Nahen Osten – durch die zunehmende Radikalisierung breiter Bevölkerungsschichten in der Region ernsthaft gefährdet. Daher geht es Bush keinesfalls nur um die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Fest im Visier hat er den Iran und dessen aktive Unterstützung radikalislamischer Gruppierungen. Washingtons Kalkül sei, sagt Tamara Cofman Wittes, Nahost-Expertin am Saban Center for Middle East Policy der liberalen Washingtoner Denkfabrik Brookings, dass ein Friedensprozess „den Weg für die US-arabische Kooperation ebnet, zum Beispiel im Irak. Und er hilft dabei, die radikalen Kräfte zu schwächen, vor allem diejenigen, die sagen, die USA leiste keinerlei positiven Beitrag in der Gesamtregion.“
Obgleich das Timing für Annapolis reichlich spät und ungünstig ist, spielt die wachsende Angst in der arabischen Welt vor den Radikalisierungstendenzen Bush und der US-Regierung in die Hände. Alle, die an diesem Dienstag nach Annapolis kommen, eint ein gemeinsames Interesse: Iran und den radikalen Strömungen etwas entgegensetzen zu können. Das meint auch der ehemalige US-Botschafter in Israel, Martin Indyk, Direktor des Saban Centers.
Ausgerechnet der Friedensprozess könnte daher, so Indyk, trotz erwartbarer Misserfolge und schwacher Regierungen in Jerusalem, in Ramallah und in Washington, als Kitt für eine neue Koalition aus Israel, den USA und den arabischen Staaten dienen. Daher sei die symbolische Bedeutung des Treffens von Annapolis groß.
Viele Kommentatoren stimmen darin überein, dass zu den Kosten der Ignoranz, die sich Bush im Nahen Osten geleistet habe, der Libanonkrieg von 2006 gehöre. Erst nach dieser Eskalation habe die Bush-Regierung angefangen zu begreifen, wie sich, während sie wegsah, die Gewichte in der Region verschoben haben, sagt Cofman Wittes. Der Krieg im Libanon aber habe ihnen deutlich gemacht, wovor Berater seit Jahren warnten: nämlich dass sich Iran, Syrien, Hamas, Hisbollah und die schiitischen Milizen im Irak längst alle auf ein Ziel verständigen können – auf den Widerstand gegen den Westen und gegen den Status quo in der arabischen Welt.