: Eine Kunstform, die Sinn konstituiert
DOKFILM Als hätte es die Dekonstruktion nie gegeben: Auf Einladung des Filmmagazins „Revolver“ sprach der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa am Dienstag im Roten Salon über die Motivation für seinen Film „Maidan“
VON BARBARA WURM
Noch nach drei Stunden „Revolver Live! #43“ ist der Rote Salon der Volksbühne voll. Alles fixiert die Leinwand, wo in einer Gefechtsszene vom Kiewer Maidan ein Mann, von einer Kugel getroffen, zu Boden geht. Man lauscht den aus dem Off im Saal kommenden (souverän von Olga Radetzkaya gedolmetschten) Kommentaren Sergei Loznitsas, der erklärt, welche dramaturgischen und moralischen Gründe ihn dazu bewogen haben, den Tod des Demonstranten nicht in sein Dok-Epos „Maidan“ aufzunehmen. So „starke“ Bilder des sich beiläufig Ereignenden.
Politisches Epizentrum
„Maidan“ lief im Mai 2014 in Cannes, kurz nach der Verlegung des politischen Epizentrums von Kiew auf die Krim. Mit zwei Kameraleuten hat Loznitsa gedreht, 100 Stunden Tonmaterial aufgenommen. Das Mikrofon der Maidan-Bühne war zentrale technische Anlage des Generalstabs der Aufständischen, sagt der 50-Jährige. Seine Aufgabe aber war es, zwei Stunden Film herzustellen. Die könnten niemals eine Entsprechung der 110 Tage Ereignis (jetzt: Geschichte) sein. Auch nicht die entscheidenden Wendepunkte im Verlauf der Proteste wiedergeben. Noch bevor man dreht – selbst ein so unvorhersehbares Geschehen wie diese blutige Revolution –, müsse daher klar sein, wie man filmt und warum. In seinem Fall: präzise kadrierte, lange, statische Totalen, Distanz erzeugen (via bewusste Langeweile), Schockwirkung vermeiden. Auch im Schnitt. Dem Zuschauer die Chance geben, etwas zu verstehen. Immer wieder fällt dieses Wort, „verstehen“. Es wird deutlich, wie sehr Kino für Loznitsa eine Kunstform ist, die „Sinn“ konstituiert, „Gedanken“ produziert, „Verstehen“ ermöglicht.
Nicht durch Sprache (Ideal: der dialogfreie Film) als vielmehr in Bild, Ton und Dramaturgie. Er meint das gar nicht hermeneutisch, also so, dass sich irgendwelche Horizonte er- oder Kreise schließen müssten, verwendet die Vokabeln aber ungebrochen, als sei die Postmoderne ohne ihn abgelaufen und als hätte es die Dekonstruktion nie gegeben. Was am Dienstag nicht nur den witzigen Nebeneffekt einer performativen Selbst-Dekonstruktion hat: Loznitsa kann reden ohne Ende, Revolver-Moderator Christoph Hochhäusler, selbst die pure Eloquenz, kommt nur selten ans Mikro. Wenn, dann pointiert und seinen Regiekollegen da abholend, wo dieser sich zu Hause fühlt, in einem (kultur)historisch weitläufigen Bildungskanon, Filmgeschichte inklusive („Schindlers Liste“: reines Erbauungskino, „The Night Porter“: präzise Opferperspektive), von Brehms Tierleben, Shakespeares Liebesreigen, Trotzkis Revolutionsstrategien bis hin zu Peleschjans Distanzmontage.
Die hartnäckige Verteidigung der Sinnproduktion hat – gerade in Zeiten der medialen Verunsicherung – aber auch etwas sehr Erfrischendes. Und sie lässt sich interkulturell begründen. Loznitsa ist in der Weißrussischen SSR geboren, in Kiew aufgewachsen und hat in Moskau studiert. Seit 2001 lebt er in Deutschland, die meisten seiner preisgekrönten Filme hat Heino Deckert produziert. „Mein Glück“ und „Im Nebel“ liefen in Cannes, auf der ganzen Welt gibt es Werkschauen. Kulturell versiert zu sein, ist ein Bonus. Die Exil-Position ermöglicht einen Blick aus der Distanz, auch und besonders auf die Kultur des Sowjetischen. In kleinen Nebenbemerkungen kommt er auf den Punkt: Es gibt dort ein ganz anderes Verhältnis zur bildlichen Darstellung. Bis heute.
Für seinen Archiv-Footage-Film „Blokada“ – den er fast eine Stunde lang akribisch analysiert – hat er das gesamte Material roh gesichtet, das während der 900 Tage Leningrader Belagerung von sowjetischen Kameraleuten gedreht wurde („Das konnten nur Offizielle sein, anders als bei der Wehrmacht hatten Rotarmisten keine Kameras“). Undenkbare Szenen – und doch meist inszeniert (ein Mensch bricht vor Hunger zusammen, in zwei Takes). Oder die quer durch die Stadt getriebenen Gefangenenkolonnen, die ihn an das Schaulaufen erinnern, das kürzlich mit den ukrainischen Soldaten im Donbass unternommen wurde. Heute funktioniere Propaganda auch anders. Putins Abtauchen, die uneheliche Kindsgeburt: Ablenkungsmanöver, während Russland aufrüstet. Nebel-Erzeugung, ermöglicht durch die Gleichzeitigkeit der Info-Kanäle. Dass sein Kino der Geschichts-Re-Vision dagegen aufklärerisch, aber undidaktisch vorgeht, wird Loznitas nächstes Projekt „Babij Jar“ belegen. Dann sprechen wieder die Bilder. Denn: „Die Rede ist eher die Störung jenes einzigartigen Geistereffekts, den nur das Kino hervorbringt.“