: Wenn der Müll sich nicht mehr selbst runterbringt
MODERNISIERUNG Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße ist Deutschlands letztes Wohngebäude mit funktionierender pneumatischer Abfallsauganlage. Das soll sich nach dem Willen der Eigentümerin Degewo ändern – nicht aber nach dem der Mieter
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Was ist das: Es ist 600 Meter lang, sitzt auf einer Straße und hat ein Ausscheidungsproblem? Nein, kein Mega-Saurier mit Verstopfung, sondern die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Wilmersdorf. Der Koloss mit knapp 1.100 Wohnungen ist Deutschlands letztes Wohngebäude mit einer funktionierenden pneumatischen Abfallsauganlage. Deren Betrieb will die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Degewo als Eigentümerin bis Jahresende einstellen. Dagegen haben sich Mieter in einer Initiative zusammengetan.
Sonja Scholz ist sauer: „Wenn ein Haus auf 100 Jahre gebaut wird, kann es doch nicht sein, dass die Müllanlage nach 30 Jahren hinüber ist!“ Die 68-jährige Hörfunkredakteurin im Ruhestand lebt seit 15 Jahren in der „Schlange“, sie hat eine kleine Wohnung in dem bis zu 46 Meter hohen, terrassierten Bau, der zwischen 1976 und 1980 über dem Abzweig der A100 nach Steglitz errichtet wurde. Damals waren Grundstücke in Westberlin knapp und Komplettlösungen – „Wohnmaschinen“ – noch en vogue. Dazu gehörte eben auch die Abfallsauganlage aus schwedischer Produktion, die nun zurückgebaut werden soll – weil sie laut Degewo und Berliner Stadtreinigung (BSR) in jeglicher Hinsicht ein Oldtimer ist. Scholz und ihre Mitstreiter von der Initiative sehen das nicht ein.
Auf ihrer Website www.mi-schlange.de listen die Protestler auf, was sich aus ihrer Sicht verschlechtert, wenn die BSR ab 2016 den Müll nicht mehr per Unterdruck durch das insgesamt zwei Kilometer lange Rohrsystem in ein Nebengebäude schleust, um ihn dort für den Abtransport zu komprimieren. Schon jetzt stinken ihnen die erwartbare Geruchs- und Lärmbelästigung durch die orange BSR-Laster, die sich künftig Tag für Tag durch den Ruhebereich zwischen der eigentlichen „Schlange“ und der dazugehörigen Blockrandbebauung schieben werden. Hier spielen Kitakinder, viele ältere Menschen sind mit dem Rollator unterwegs. Die Umwandlung der Fahrradräume in Müllräume und die Verbannung der Fahrräder in die Garagen tief im Bauch des Giganten gefallen ihnen nicht.
Eine ganz andere Zeit
Gegen all das kann die Degewo wenig vorbringen. Sie führt technische Argumente ins Feld: Die Anlage sei von Anfang an für eine Betriebsdauer von rund 30 Jahren ausgelegt gewesen, sagt Sprecher Lutz Ackermann. Inzwischen sei der Verschleiß so groß, dass sich ein Weiterbetrieb nicht mehr rechne. Dass man die Anlage im Verein mit der BSR regelrecht „auf Verschleiß gefahren“ habe, wie die Mieter ihnen vorwerfen, bestreitet er: „Das ist nicht richtig. Es wurden immer wieder Teile ausgetauscht, wir haben insgesamt einen hohen Wartungsaufwand.“ Inzwischen verursache das System doppelt so hohe Kosten bei der Müllentsorgung wie der Durchschnitt der Degewo-Wohnanlagen. Aber was hatte sich der Bauherr vor 30 Jahren beim Einbau einer solchen Anlage gedacht? „Das war eine ganz andere Zeit“, so Ackermann. „Damals war die Absauganlage auch nicht die einzige in Deutschland. Alle anderen sind in den vergangenen Jahren geschlossen worden. Das ist einfach nicht mehr zeitgemäß.“
Degewo und BSR argumentieren auch mit den gesetzlichen Vorgaben zur Abfalltrennung. Die sei mit der Anlage einfach nicht umzusetzen. Zwar werden jetzt schon Papier, Glas und Verpackungsmüll in Containern gesammelt und abgeholt, aus Bequemlichkeit nähmen viele Bewohner dieses Angebot aber nicht wahr. „Es wird so gut wie nicht getrennt“, sagt BSR-Sprecherin Sabine Thümler und nennt ein konkretes Beispiel: Die Biomüll-Behälter, die die Stadtreinigung in der „Schlange“ aufstelle, machten vom Volumen her gerade einmal 4 Prozent dessen aus, was in vergleichbaren Wohnanlagen stehe. Trotzdem würden die braunen Tonnen nicht voll. Ergo wanderten Küchenabfälle & Co. größtenteils auf dem kurzen Weg im Schacht.
Die Mieter der Autobahnüberbauung haben inzwischen Modernisierungsankündigungen erhalten. In der Begründung für die Maßnahmen heißt es unter anderem, die Abfallsauganlage widerspreche geltendem Baurecht. So ganz stimmt das aber nicht: Zwar schreibt die Berliner Bauordnung vor, bestehende Abfallschächte (vulgo: Müllschlucker) zu schließen, sie lässt aber Ausnahmen zu, wenn Mülltrennung und Brandschutz trotzdem gewährleistet sind.
Technisch wäre das vermutlich zu leisten. Der schwedische Hersteller Envac, der seine Anlagen vor allem in Nordeuropa verkauft, aber auch nach Spanien, in die USA oder nach Südkorea liefert, bietet längst Absaugsysteme an, die verschiedene Müllfraktionen trennen – etwa durch optische Erkennung von Tütenfarben. Allerdings würde das kosten. Die Degewo geht von 3 bis 4 Millionen Euro für eine Neuinvestition aus, es wäre das Doppelte bis Dreifache der Summe für die Stilllegung. Und gewartet werden müsste ja auch eine neue Anlage. Degewo und BSR versprechen, dass ihr Weg am Ende sogar die Betriebskosten für die Mieter senkt. Die Mieterinitiative zweifelt das an: In Großsiedlungen wie der Gropiusstadt und dem Märkischen Viertel hätten sich ähnliche Ankündigungen nicht bewahrheitet.
Sonja Scholz liebt ihre „Schlange“, sagt sie, und wenn man das Betongebirge über der Autobahn erst einmal betreten hat, klingt das gar nicht mehr so seltsam: Laut ist es hier kein bisschen, und der Blick über die Terrassen und Dachgärten lässt fast Urlaubsstimmung aufkommen. Damit das so bleibt und nicht schon bald die Müllpressen der Lkws vor den Eingängen dröhnen, ruft die Mieterinitiative dazu auf, der Modernisierungsankündigung zu widersprechen und Mietminderung anzukündigen. Für den Samstag rufen sie zu einer Protestkundgebung auf. Und dann haben sie noch einen Trumpf im Ärmel: einen Antrag auf Denkmalschutz für das gesamte Ensemble. „Da können dann nicht so einfach die Lastwagen durchrollen“, hofft Scholz.