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Archiv-Artikel

Die Irren vom Gral

PREMIERE IM SCHILLERTHEATER Wagner gegen seine Liebhaber verteidigt: Daniel Barenboim und Dmitri Tcherniakov verzichten bei Richard Wagners „Parsifal“ auf Perfektion – gerade das macht diese Aufführung groß

Wer weiß, wie Wagner klingen muss, war enttäuscht. Wir wissen jetzt aber, wie Wagner klingen kann: aufregend, verrückt sogar, extrem lebendig

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Mehrere Regalmeter lang ist die Diskussion über die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kunst bei Richard Wagner im Allgemeinen und in seiner letzten Oper, „Parsifal“, im Besonderen. Dmitri Tcherniakov interessiert sich dafür nicht im Geringsten. Seine Bühne ist der Innenraum eines öffentlichen Gebäudes. Wahrscheinlich war es einmal eine Kirche, aber später wurden darin vielleicht die Traktoren der örtlichen Kolchose repariert.

Diese Zeiten sind auch vorbei. Hinten geht eine Tür auf, René Pape kommt herein und singt seine ersten Worte. Man soll aufstehen und nach dem kranken König sehen. René Pape ist schon längst weit darüber hinaus, Wagner nur zu singen. Er spielt Wagner, mal mit dem vollen Wunderklang seiner Cello-Stimme, manchmal ist es eher ein Sprechen mit festen Tonhöhen, manchmal ist es ein Konzertlied mit Gesten. Immer ist es richtig, verständlich und so, als stehe da tatsächlich ein Mensch auf der Bühne.

Menschen sind in Wagners Personal die Ausnahme. Bei Tcherniakov werden sie die Regel. Anja Kampe hat sich am Tag vor der Premiere eine schwere Grippe eingefangen, sagt Intendant Flimm, bevor es losgeht. Sie wolle trotzdem singen, und man möge entschuldigen, wenn es ihr nicht immer ganz gelinge. Es gibt nichts zu entschuldigen, Grippe ist menschlich, und auch Anja Kampe kann mehr als Wagner nur singen. Sie spielt eine kranke Frau mit goldglänzender Schmerzensstimme.

Wie Anja Kampe die Kundry ohne Grippe singt, kann man sich vorstellen. Besser als jetzt ist es aber wahrscheinlich nicht. Sie hat gelacht, als Christus am Kreuze hing, sagt Wagners Text, seither lebt sie ständig am Rande des Wahnsinns und muss auch noch den Parsifal verführen, den reinen Toren, wie es auch im Text steht. Andreas Schrage schafft es mit seinem herrlich vollen Tenor, sogar diese Kopfgeburt so zu singen, als sei ein Mensch auf der Bühne. Ein Rucksacktourist in kurzen Hosen, der sich verlaufen hat und aus lauter Blödheit einen Schwan abschießt.

René Pape schimpft mit ihm, weil das böse sei und hier im postsowjetischen Niemandsland jenseits der Geschichte die Regeln der Gralsritter gelten. Dabei kommt es zu Problemen mit dem Orchester, denn auch Daniel Barenboim kann viel mehr als nur schönen Wagner dirigieren. Die Noten sind seit ewigen Zeiten bekannt und Barenboim muss die Staatskapelle nicht mehr kommandieren. Er gibt ihnen Einsätze und hört dann zu. Menschen spielen ihre Instrumente meisterhaft und erzeugen eine Musik, die so noch nie zu hören war. Kein Klangrausch, stattdessen Einzelstücke mit Pausen und leeren, mittelalterlich anmutenden Harmonien, wiederkehrende melodische Fragmente, eingetaucht in mitunter schroffe Instrumentalfarben. Der Mensch an der Bassklarinette hört zu Hause wahrscheinlich immer nur Eric Dolphy und macht das nun auch mal so aggressiv schnarrend wie der drogenkranke Jazzmusiker.

Es gab auch ein paar Buhrufe am Ende. Wer weiß, wie Wagner klingen muss, war enttäuscht. Wir wissen jetzt aber, wie Wagner klingen kann: aufregend, ein bisschen verrückt sogar, extrem und unglaublich lebendig. Deswegen kommt es zu Konflikten. René Pape muss den Menschen Gurnemanz manchmal leise singen, obwohl Wagner an dieser Stelle gerade einen besonders interessanten Instrumentalsatz geschrieben hat, den die Menschen im Orchester auch groß ausspielen müssen, damit wir diese merkwürdige Musik verstehen. Das kann dann schon mal zu laut sein für Pape, aber Barenboim hat Besseres zu tun, als pedantisch die Balance der Lautstärken zu diktieren. Er lässt spielen, damit Musik entsteht, nur jetz und gerade jetzt, auch wenn die ganze Oper sechs Stunden dauert.

Perfektion ist keine Kunst, wirklich groß ist diese Aufführung, weil sie darauf verzichtet. Richtig laut wurde das Buhgeschrei dann aber, als auch Dmitri Tcherniakov zum Applaus antrat. Natürlich hat er nicht das Bühnenweihfestspiel inszeniert, das zuerst nur in Bayreuth aufgeführt werden durfte. Er hat Wagners Text gelesen und danach eine medizinische Diagnose gestellt: Ein Haufen Männer in einer gottverlassenen Provinz halten sich für die Hüter eines religiösen Fetischs und haben eine Reihe von Ritualen eingeführt, die ihrem Leben einen Sinn geben. In Wirklichkeit sind es arme Schlucker, die sich in dicken Wintermänteln in der verrotteten Halle versammeln.

Mit einem Diavortrag erzählt ihnen René Pape, woran sie angeblich glauben: an Christi Blut, an den Bösen im Nachbardorf und an den Erlöser, der den heiligen Speer zurückholt. Kein Mensch versteht das, Andreas Schrage schon gar nicht, René Pape eigentlich auch nicht – und Anja Kampe hat eh Fieber. Aber es ist wahr, weil es diese Menschen wirklich gibt. Wie in einem Dokumentarfilm zeigt Tcherniakov den Wahn ihrer Erlösung. In dichtem Haufen zusammengedrängt zucken sie in spastischer Verzückung und fallen dann einfach hin. Tot sind sie nicht, aber unheilbar krank. Tcherniakovs Diagnose ist auch eine Diagnose der Gegenwart. Schön ist das nicht, aber Wagner ist halt nicht schön.

■ Nächste Aufführungen: 31. März, 3., 6., 12., 17. April 2015