: Wach und heiter und so weiter
BLITZSCHNELL Der Zweite Weltkrieg war ein Speedkrieg – von Adolf Hitler bis Heinrich Böll waren alle auf „Pervitin“
VON ARNO FRANK
Es wirkt sehr schnell. Eben noch müde oder niedergeschlagen, ist man plötzlich wach und heiter. Hunger und Durst sind wie weggeblasen, obwohl man jetzt literweise Rotwein trinken könnte, ohne umzufallen. Das Herz rast, und Wellen wohliger Wärme durchfluten den Körper. Licht wirkt greller. Jetzt könnte man die Fassade dort hochklettern oder jede andere aberwitzige Aufgabe lösen, spielend, so sehr fliegen einem Kraft, Mut und Geschicklichkeit zu. Das Selbstvertrauen und die Risikobereitschaft steigen in gefährliche Höhen, zumal die Wirkung einfach nicht nachlassen will. Davon möchte man auch anderen Leuten gerne ausführlichst erzählen. Irgendwann stellt sich das erfreuliche, wenngleich trügerische Gefühl physischer und psychischer Unbesiegbarkeit ein. Es ist ein Wirkstoff mit dem chemisch nüchternen Namen N-Methylamphetamin, der im Blut diese erstaunliche Wirkung entfaltet – und das nicht erst seit gestern.
Betteln um Drogen
Es sind Briefe eines jungen Wehrmachtssoldaten erhalten, der in geradezu quengeligem Ton die Familie daheim um die Droge anbettelte: „Schickt mir nach Möglichkeit bald noch etwas Pervitin“, schrieb er einmal aus dem besetzten Polen, oder: „Vielleicht könntet Ihr mir noch etwas Pervitin für meinen Vorrat besorgen?“, denn: „Der Dienst ist stramm, und Ihr müsst verstehen, wenn ich späterhin Euch nur alle zwei bis vier Tage schreibe. Heute schreibe ich hauptsächlich um Pervitin … Euer Hein.“
Hein, das ist der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, und Pervitin war der Markenname von N-Methylamphetamin. Heute spricht man, je nach Szene und Zusammensetzung, von Meth, Crystal oder einfach Speed. Im Zweiten Weltkrieg war von „Panzerschokolade“, „Stuka-Tabletten“ oder „Hermann-Göring-Pillen“ die Rede. Vor allem bei den blitzartigen Feldzügen in Polen 1939 und in Frankreich 1940 hatten es die Gegner der Wehrmacht mit chemisch aufgeputschten Soldaten zu tun. Insgesamt sollen bis 1945 mehr als 60 Millionen Pillen Pervitin an die kämpfende Truppe verabreicht worden sein. Der Zweite Weltkrieg war ein Speedkrieg.
Erstmals 1893 von einem japanischen Chemiker synthetisiert und 1920 zum Patent angemeldet, wurde Pervitin als Arzneimittel ab 1938 von der Berliner Firma Temmler hergestellt. Prompt erfreute es sich auch unter Zivilisten großer Beliebtheit – als in der Apotheke erhältliche Alternative zur seit 1933 moralisch verpönten Droge der Weimarer Republik, dem Kokain. Und prompt wurde Pervitin an 90 Fähnrichen der Militärärztlichen Akademie in Berlin auf seine Kriegstauglichkeit getestet. Versuche mit den sogenannten Weckmitteln gingen bis 1944 weiter, unter anderem an Sportlern. Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen wurden mit einem Mix aus Pervitin, Kokain sowie dem Schmerzmittel Eukodal vollgestopft und auf Gewaltmärsche geschickt, immer im Kreis herum. Hier ging es vor allem darum, ein Mittel für die Besatzungen der neu entwickelten Zwei-Mann-U-Boote vom Typ „Seehund“ zu finden, die unter widrigsten Witterungsbedingungen manchmal für Wochen im Ärmelkanal und an der Themse-Mündung operieren sollten. In einem ärztlichen Kriegstagebuch findet sich die zufriedene Notiz: „Eindrucksvoll ist die Verringerung des Schlafes. Bei dieser Arzneiwirkung sind Veranlagung und Wille weitgehend ausgeschaltet“.
Dabei stellte sich rasch heraus, dass das Mittel zwar zur kurzfristigen Leistungssteigerung eingesetzt werden kann, diese Wirkung aber zum Preis immer längerer Erholungsphasen unverhältnismäßig teuer erkauft war. Im Übrigen entging den Nationalsozialisten keineswegs, dass eine allzu freizügige Ausgabe von Pervitin mit der allgegenwärtigen Propaganda von der „Volksgesundheit“ nicht zu vereinbaren war. Im März 1940 hielt der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti, wie sein Führer ein Verfechter von Askese und Euthanasie, vor dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund eine Rede zum Thema: „Wer Ermüdung mit Pervitin beseitigen will, der kann sicher sein, dass der Zusammenbruch seiner Leistungsfähigkeit eines Tages kommen muss. Dass das Mittel einmal gegen Müdigkeit für einen Hochleistungsflieger, der noch zwei Stunden fliegen muss, angewendet werden darf, ist wohl richtig. Es darf aber nicht angewendet werden bei jedem Ermüdungszustand, der in Wirklichkeit nur durch Schlaf ausgeglichen werden kann. Das muss uns als Ärzten ohne weiteres einleuchten.“
Gehörte Pervitin anfangs noch zur regulären Sanitätsausrüstung des Heeres, wurde es schon im Winter 1939 unter „jedesmaligen“ Rezeptzwang gestellt. 1941 fiel es endlich unter das Opiumgesetz, auch die Ausgabe an die Truppe wurde stark eingeschränkt. In einer Anweisung der Kriegsmarine heißt es: „Jeder Sanitätsoffizier muss sich darüber im klaren sein, daß er im Pervitin ein sehr differentes und starkes Reizmittel in der Hand hat, das ihm jederzeit gestattet, bestimmte Personen seines Wirkungskreises bei der Durchführung übernormaler Leistungen tatkräftig und wirkungsvoll zu unterstützen; er soll sich aber auch jederzeit der damit verbundenen Verantwortung bewußt werden“.
Stoff auf beiden Seiten
Doping wurde freilich von allen Parteien an allen Fronten betrieben. Überliefert ist allein von in England stationierten US-Truppen der Konsum von zwei Millionen Amphetamin-Pillen, die Briten selbst schworen auf Benzedrin, und vor allem in Japan – der Heimat des Methylamphetamin – ging am Ende gar nichts mehr ohne den Stoff. Nicht nur Paladine wie der Morphinist Göring, auch Adolf Hitler selbst konnte dem psychischen Druck und den endlosen Lagebesprechungen bald nur noch dank der täglichen Injektionen seines „Leibarztes“ Theo Morell standhalten. Neben Pervitin enthielten diese Spritzen Eukodal, ein Morphiumderivat, Ultraseptyl, Mutaflor, Homoseran, Hormone, Organpräparate, Sulfonamide und ätherische Öle.
Wie beiläufig der Drogenmissbrauch in der Führungsspitze praktiziert wurde, geht aus einem Tagebucheintrag Joseph Goebbels’ vom Obersalzberg am 6. Juni 1944 hervor: „Professor Morell hilft mir etwas, meinen ein wenig entkräfteten Gesundheitszustand aufzubessern. Er ist auch dem Führer in letzter Zeit gesundheitlich eine große Stütze gewesen. Ich kann das bei meinem Zusammentreffen mit dem Führer feststellen, der blendend aussieht und sich in guter Stimmung befindet.“ Es kann angenommen werden, dass Hitlers rapider gesundheitlicher Abbau unter anderem drogeninduziert war. Eine der vielen Langzeitfolgen von Speed sind übrigens paranoide Zustände, die schnell in Wutanfälle umschlagen.
Mit dem Ende des Krieges endete indes nicht der Gebrauch der Droge – im Gegenteil. Pervitin und seine Verwandten wurden zur klassischen „Lastwagenfahrerdroge“. Heimkehrende US-Piloten, schwer süchtig, schlossen sich zu „Hell’s Angels“ zusammen und organisierten einen schwunghaften Handel mit Amphetaminen.
In Europa erinnerte man sich vor allem unter Sportlern an die vielen feinen Mittelchen zur Hochleistungssteigerung. Verbürgt ist beispielsweise, dass der Tiroler Hermann Buhl 1953 sich bei der Erstbesteigung des Nanga Parbat selbst mit Pervitin unter die Arme griff – anders wären die Strapazen von 41 Stunden Solo-Klettern nebst ungeschütztem Biwak auf 8.000 Metern Höhe wohl nicht zu bewältigen gewesen. Und 1954 besiegte im WM-Finale von Bern die deutsche Fußballnationalmannschaft mit 3:2 die Ungarn, denen sie noch in der Vorrunde mit 8:3 unterlegen war – nachdem Mannschaftsarzt Franz Loogen sämtlichen Spielern zuvor eine rätselhafte Injektion gesetzt hatte. Angeblich waren alle Spieler kurzfristig an einer Gelbsucht erkrankt.
Im gleichen Jahr kam das Amphetaminderivat Ritalin auf den Markt, das heute noch gern als „Hirndoping“ vor Examen eingesetzt wird. Eben noch müde oder niedergeschlagen, ist man plötzlich wach und heiter und so weiter und so weiter …