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■ Arbeitsmarktpolitik zwischen Ökonomie und SolidaritätWer hat Angst vorm Zweiten Arbeitsmarkt?

1. Der Sozialstaat soll gesellschaftlicher Desintegration entgegenwirken und bedient sich dabei spezifischer Kombinationen der Ressourcen „Macht“ und „Geld“. Seine faktische Handlungsfähigkeit beruht insbesondere auf folgenden Voraussetzungen:

– Einerseits bedarf er einer produktiv organisierten Erwerbswirtschaft, die hinreichend verteilungsfähige Überschüsse produziert. Spätestens nach 1989 behauptet niemand mehr zu wissen, wie dies auf nichtkapitalistische Weise zu organisieren wäre. Im praktischen Umkehrschluß bedeutet dies, daß jede Sozialpolitik in ihren Finanzierungsgrundlagen die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Marktwirtschaft akzeptieren muß.

– Andererseits kann der Sozialstaat als demokratischer Verfassungsstaat in einer pluralistischen Gesellschaft Leistungen nur in dem Maße erbringen, wie die gesellschaftliche Wertentscheidung, daß die wirtschaftlich „Starken“ den „Schwachen“ beistehen, Bestand hat beziehungsweise konsensual erneuert wird. Ohne Rückgriff auf die Ressource „Solidarität“ ist also Sozialpolitik nicht möglich.

Die gegenwärtige Krise der Sozialpolitik beruht meines Erachtens darauf, daß beide Funktionsvoraussetzungen bedroht beziehungsweise teilweise nicht mehr gegeben sind. Bezogen auf das sozialpolitische Handlungsfeld „Arbeitsmarktpolitik“ soll dies im folgenden thematisiert werden. Meine Schlußfolgerungen sind nur qualitativer Natur und nicht „durchgerechnet“.

2. Die marktökonomischen Prozesse der Kapitalverwertung produzierten schon zu Zeiten der „alten“ Bundesrepublik vermehrten arbeitsmarktpolitischen Handlungsbedarf. Die Gründe dafür sind insbesondere in einer veränderten internationalen Arbeitsteilung sowie technisch-ökonomischen Modernisierungsprozessen unter Bedingungen verschärfter Weltmarktkonkurrenz auszumachen. Die daraus resultierende negative Entwicklung am Arbeitsmarkt wird zur Zeit in (West-) Deutschland wegen der (internationalen) Konjunkturschwäche rezessiv verstärkt und in Ostdeutschland durch die übergangslose Integration der ökonomischen Hinterlassenschaft des „realexistierenden Sozialismus“ in den Weltmarkt zusätzlich enorm aufgeladen.

Es müßte also arbeitsmarktpolitisch deutlich mehr geschehen als bei „normalem“ Gang der Dinge. Im Osten geschieht dies mittlerweile sogar in einem gewissen Umfang und in einer Art und Weise, die über die klassische Politik der Arbeitsbeschaffung hinausgeht und de facto bereits den Übergang zum Zweiten Arbeitsmarkt markiert. Was Politik, Wirtschaft und auch die Gewerkschaften meines Erachtens daran hindert, diese Kurskorrektur offensiv zu vertreten und fortzusetzen, das heißt für die gesamte Bundesrepublik der Errichtung eines dauerhaften Zweiten Arbeitsmarktes Priorität einzuräumen, ist die Schwierigkeit, endgültig von der Fiktion Abschied zu nehmen, Vollbeschäftigung oder jedenfalls eine erhebliche Verringerung der Arbeitslosigkeit sei unter den Bedingungen des Hochlohnlandes Bundesrepublik Deutschland mit den realisierbaren Wachstumsraten, staatlichen Konjunkturprogrammen, kollektiven Arbeitszeitverkürzungen usw. zu erreichen.

Jede arbeitsmarktpolitische Strategie muß vielmehr zunächst davon ausgehen, daß die neue Bundesrepublik aus der jetzigen konjunkturellen Krise und den Strukturbrüchen in Ost und West mit einer Dauerarbeitslosigkeit in der Größenordnung von fünf bis sechs Millionen Menschen herauszugehen droht.

3. Daraus ergibt sich die Dimension der Aufgabenteilung beziehungsweise das Finanzierungsproblem, denn die Widerstände gegen die Entwicklung eines Zweiten Arbeitsmarktes diesen Ausmaßes sind selbstverständlich nicht nur ideologischer Natur. Es geht ums Geld beziehungsweise darum, wer es wie aufbringen soll. Der Weg einer weiteren Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ist meines Erachtens aus zwei Gründen ausgeschlossen: Erstens würden Beamte und Selbständige auch künftig nicht zur Finanzierung einer zentralen gesellschaftspolitischen Aufgabe herangezogen, und zweitens würde die weitere Erhöhung der Lohnnebenkosten die Position der deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb schwächen und so zu einer Zersetzung der ökonomischen Grundlagen des Sozialstaates beitragen.

Daraus folgt, daß als sozial gerechtes und wirtschaftspolitisch unschädliches Finanzierungsinstrument für den Zweiten Arbeitsmarkt nur eine zweckgebundene allgemeine Arbeitsmarktabgabe in Frage kommt. Gegenüber dem jetzigen Zustand würden folgende Änderungen eintreten:

– Die Höhe des Beitrags für die Arbeitslosenversicherung würde soweit reduziert, wie es für die Finanzierung von Arbeitslosengeld und -hilfe und der Arbeitsvermittlung als Dienstleistung erforderlich ist.

– Die Höhe der Arbeitsmarktabgabe müßte für die Unternehmen so kalkuliert werden, daß ihre heutige Belastung durch den Arbeitgeberanteil an der Arbeitslosenversicherung nicht überschritten wird.

– Die Gesamtbelastung der beschäftigten ArbeitnehmerInnen aus Arbeitsmarktabgabe und Arbeitslosenversicherung dürfte demgegenüber – trotz der Heranziehung von Beamten und Selbständigen – über ihrer heutigen Höhe liegen. Das ist der unvermeidbare kollektive Preis des Zweiten Arbeitsmarktes, den zu fordern aber gerechtfertigt ist, weil die Ursachen für den Verlust des Arbeitsplatzes den Betroffenen allenfalls bedingt zurechenbar sind.

4. Die Errichtung eines dauerhaften Zweiten Arbeitsmarktes kommt auf jeden Fall teuer und beansprucht die verfügbaren Solidaritätsressourcen erheblich. Die Chancen seiner politischen Realisierung würden meines Erachtens erheblich steigen, wenn die Gewerkschaften und die Beschäftigten des Zweiten Arbeitsmarkts akzeptierten, daß die in diesem Bereich erzielbaren Löhne unter denen des ersten Arbeitsmarkts liegen. Davon hängt einerseits ab, wie viele Arbeitslose im Zweiten Arbeitsmarkt Beschäftigung finden können, andererseits geht es aber auch darum, daß die Solidarität der Gesellschaft mit den Arbeitslosen eine Entsprechung auf deren Seite findet. Anders ist Solidarität nicht lebbar.

Nun wird aber in der gewerkschaftlichen Diskussion über neue Strategien der Beschäftigungspolitik bisher eine Absenkung der Entlohnung im Zweiten Arbeitsmarkt auf bis zu 80 Prozent der entsprechenden Tarifeinkommen mit dem Argument abgelehnt, es dürfe nicht zwei Klassen von Arbeitnehmern geben. Gut gesprochen, so soll es sein! Nur: Verhindert etwa diese Prinzipienfestigkeit eine noch schlimmere Spaltung, nämlich daß die Betroffenen beim Bezug von Arbeitslosengeld oder -hilfe materiell weit schlechter gestellt bleiben, nicht zu reden von den psychosozialen und politischen Folgen der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die Arbeitslosigkeit darstellt?!?

Im Kern geht es bei allen Debatten um das „Ob“ und „Wie“ des Zweiten Arbeitsmarktes oder auch bei der neuerlichen Diskussion um Lohnsubventionierung in Gestalt einer negativen Einkommenssteuer darum, ob die Gewerkschaften weiterhin bestreiten oder anerkennen, daß in der Weltmarktkonkurrenz neben Faktoren wie Technologieeinsatz, intelligenter Arbeitsorganisation, Qualifikation beziehungsweise arbeitskulturellen Einstellungen und steuerlichen Rahmenbedingungen auch die Arbeitskosten für die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens von Bedeutung sind. Mit der praktischen Antwort auf diese Frage entscheiden die Gewerkschaften auch darüber, ob es ihnen in erster Linie um zusätzliche Beschäftigung für möglichst viele Arbeitslose oder darum geht, folgenlos an ihrer bisherigen Position festzuhalten.

5. Eine Schlußbemerkung zur Arbeitszeitpolitik. Hier sollten die Gewerkschaften – statt gar nichts zu tun oder statt den untauglichen Versuch zu unternehmen, gegen die deutliche Mehrheit der Beschäftigten kollektive Arbeitszeitverkürzungen erreichen zu wollen – endlich für die Durchsetzung arbeitsorientierter Flexibilisierungskonzepte aktiv werden. Im Zentrum sollte dabei die tarifvertragliche Verankerung eines Individualrechts auf Teilzeitarbeit stehen, was eine wichtige sozialpolitische Flankierung der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellen würde. Auf diese Weise ließe sich auch ein Beitrag zur Entschärfung eines anderen gesellschaftlichen Schlüsselproblems leisten, das sich mit Stichworten wie Altersarmut von Frauen, negative demographische Entwicklung oder Rentenkrise umreißen läßt und auf das Grundproblem der sträflichen Unterbewertung der Reproduktionsarbeit gegenüber der Erwerbsarbeit verweist.

Hier besteht ein ebenso großer sozialpolitischer Handlungsbedarf wie in der Arbeitsmarktpolitik, wenn unsere Gesellschaft künftig nicht an einem neuartigen, ökonomisch motivierten Generationenkonflikt zerbrechen soll. Helmut Schütte

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