Anne Hidalgo und die Fahrradstadt Paris: Notre Anne von Paris

Im Zentrum der einstigen Autostadt Paris hat Bürgermeisterin Anne Hidalgo eine Mehrheit für ökologische Mobilitätspolitik. Aber im Umland der europäischen Metropole gilt sie als abgehoben.

»Paris wird eine gesunde Stadt«: Hidalgo im Rathaus Foto: Denis Allard/Laif

Von ANNIKA JOERES

In einer Welt, in der die Verbannung von Autos noch immer zu den politisch riskantesten Ideen zählt, beweist die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo: Es geht. Beispielsweise will sie 60.000 Parkplätze abschaffen, also mehr als die Hälfte, sie sollen Platz machen für Bäume, Fuß- und Radwege. Große Teile des Zentrums, rund um die Kathedrale Notre-Dame, das Quartier Latin, das Viertel mit dem Centre Pompidou und der Marais, sollen künftig nur noch für Anlieger und Menschen mit Gehproblemen im Auto angefahren werden dürfen, Tempo 30 gilt inzwischen ohnehin. Für alle, die Paris einst als fahrradfreie Hauptstadt kannten, in der sich ab nachmittags der Dunst der Abgase über die Türme von Notre Dame und Sacre Coeur legte, ist der Wandel unter der Sozialistin – in Deutschland hieße sie Sozialdemokratin – tatsächlich spektakulär.

Wie konnte Hidalgo mit diesem Programm im bürgerlichen Paris 2020 wiedergewählt werden? In einem Paris, das sich im ersten Corona-Lockdown leerte, weil die wohlhabenden Bewohner im Westen der Stadt mit ihren SUVs ins Wochenendhäuschen flüchteten? Man könnte sagen, sie hat die richtige Ansprache gefunden. Zwar holte Hidalgo vor ihrer Wiederwahl 2020 den bekanntesten französischen Klimaforscher Jean Jouzel in ihr Team, sie ist überzeugt davon, dass die steigenden Temperaturen Paris unbewohnbar machen könnten; aber darüber redet sie nicht, auch nicht von CO2-Emissionen, nicht von Unfällen und dem Widersinn spritfressender Geländewagen auf asphaltierten Stadtstraßen. Nein, die sozialistische Bürgermeisterin von Paris spricht über die Lungen von Schulkindern, darüber, dass SUVs aufgrund ihrer Größe Erstklässler übersehen könnten, über Asthma an Autobahnen. Aus »gesundheitlichen Gründen« soll die Hauptstadt bald nur noch für Fußgänger und Radfahrer attraktiv sein.

Hidalgo will das Auto aus der Stadt verbannen

Inzwischen ist Hidalgo auch international berühmt für ihren Wandel. Denn auch wenn skandinavische Städte wie Kopenhagen längst viel rad- und fußgängerfreundlicher sind als Paris, so war die französische Kapitale eben traditionell eine Auto-Stadt. Auf der Weltklimakonferenz in Glasgow Anfang November zeichnete die UNO Hidalgo daher für ihren »vorbildliche[n] Kampf für eine klimafreundliche Stadt« aus, ohnehin ist sie seit sechs Jahren Chefin der Klima-Allianz C40, der rund hundert größten Städte weltweit.

Hidalgo will das Auto aus Paris »verbannen«, wie sie kürzlich im Gespräch freimütig und wie immer recht einsilbig formulierte, und dann stieg sie auf ihr Fahrrad, setzte einen silbernen Helm auf ihre pechschwarzen Haare und zeigte vom Sattel aus in ein paar neue Fußgängerzonen, auf die Zähler an den neuen Wegen, die schon mittags mehr als 10.000 Radlerinnen und Radler registrieren. »Paris wird eine ›gesunde Stadt‹«, sagte sie dann. Gesundheit ist ihr stärkstes Argument für den Wandel: Wenn andere Bürgermeister ihre schlechten Luftwerte verstecken, so verkündete Hidalgo stets die hohen Feinstaubwerte in ihrer Stadt. Zusammen mit Grünen und Kommunisten, mit denen sie im Rathaus in einer festen Koalition zusammenarbeitet. Dort herrscht eine bislang einmütige Arbeitsteilung: Die Kommunisten kümmern sich um sozialen Wohnungsbau – sie fordern beispielsweise, Airbnb-Wohnungen zu erschweren –, die Grünen um Klima- und Umweltschutz, Hidalgo verkündet die Visionen. Inzwischen belegt Hidalgo bei einem Ranking von Umweltorganisationen den ersten Platz – sie habe unter zwölf französischen Großstädten am besten für saubere Luft gesorgt.

Dabei waren Fahrräder in Paris lange Zeit kaum zu sichten. 1996 gab es drei Kilometer Radwege in der Hauptstadt, sie wurden damals »couloir de courtoisie« genannt – »Wege der Höflichkeit«. Vierspurige Straßen mit schmalen Bürgersteigen durchschnitten die Stadt. Als in den 1970er-Jahren die ersten Parkuhren aufgestellt wurden, demonstrierten die Autofahrer dagegen – der Platz gehöre ihnen, argumentierten sie. Das änderte sich schon mit dem »Vélib« im Jahr 2007, dem kostenlosen Verleih von inzwischen 20.000 Fahrrädern an hunderten Stationen im Zentrum, dem schließlich auch Radwege folgten. Laut Statistiken der Stadt können Radfahrende 15 Kilometer pro Stunde zurücklegen – und sind damit schneller als Pkw. Allerdings ist das Parken in zweiter und dritter Reihe, das Nichtbeachten von Zebrastreifen auch heute noch alltäglich.

Paris strebt Klimaneutralität an

Auch klimaneutral will Paris werden, und muss es ja auch nach dem auf einem ihrer Messegelände abgeschlossenem historischem Klimavertrag 2015. Bislang werden allerdings nur fünf Prozent der verbrauchten Energie durch Photovoltaik produziert, dieser Anteil soll sich bis 2050 vervierfachen und darüber hinaus nur Solar- und Windenergie eingekauft werden. Hidalgo nennt es »das Recht jeden Bürgers, saubere Energie zu nutzen«. Bis dahin soll sich der Konsum auch halbieren, so schreibt es der Aktionsplan vor – wie genau steht in dem hundertseitigen Papier allerdings nicht. Öffentliche Gebäude sollen schon 2030 auf Gas- oder Ölheizungen verzichten und möglichst alle Gebäude isoliert werden.

Zurzeit tourt Hidalgo als Präsidentschaftskandidatin für die Sozialisten durch die Lande, sie will die seit der Wahl 2017 von Emmanuel Macron am Boden liegende Traditionspartei wieder in den Elysée-Palast bringen. Umfragen sehen sie allerdings bislang auf einem abgeschlagenen Platz, hinter Macron und der rechtsextremen Marine Le Pen, und noch hinter dem ebenso rechtsextremen Aufsteiger Éric Zemmour und den Konservativen. Die Grünen wollten sie nicht unterstützen und stellten im Wahlkampf einen eigenen Kandidaten auf. Das hat ihr Verhältnis verschlechtert: Während Hidalgo frühzeitig eingeräumt hatte, von den Grünen »ökologisches Denken gelernt« zu haben, bezichtigt sie sie zusehends, Menschen in Armut zu vergessen. Allerdings nicht beim Klimaschutz, denn dieser ist nach Hidalgos Worten »Schutz für die Ärmsten«, sondern in der Wirtschafts- und Steuerpolitik.

Abseits von Paris wählt Frankreich von Jahr zu Jahr konservativer, ja selbst der einst als Liberaler gestartete Macron rückte im Laufe seiner Amtszeit aus linksliberaler Sicht mehr und mehr in die konservativ-reaktionäre Ecke mit einer Reihe von scharfen Polizeigesetzen und niedrigen Steuern für Vermögende.

Nur im Stadtzentrum leben Fans des grünen Umbaus

Aber schwierige Zeiten kennt Hidalgo. Kurz nachdem sie 2014 ins Rathaus zog, beurteilte sie nach einer Umfrage nur noch jeder siebte positiv. Ihr wichtigstes Projekt, das Seine-Ufer für den Straßenverkehr aus Gründen des »öffentliche[n] Interesses« zu schließen, wurde vor dem Pariser Verwaltungsgericht gekippt: Die Richterinnen bemängelten, die Folgen des Erlasses für das gesamte Viertel nicht detailliert genug dargestellt zu haben. Hidalgo saß erst mal als Verliererin im Rathaus und die Autos bretterten wieder tagein tagaus über die Seine-Schnellstraße. Einige Kommentatoren warfen der Bürgermeisterin vor, sie erzeuge absichtlich Staus durch Baustellen, um die Menschen in den öffentlichen Nahverkehr zu zwingen.

Redet nicht von CO2, sondern von Schulkindern: Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo Foto: Denis Allard/Laif

Hidalgo gab nicht auf. Sie veranlasste nach der Niederlage vor Gericht, die Fluss-Autobahn mit einer anderen Begründung zu schließen. Die Ufer seien Teil des Weltkulturerbes, zu denen die historischen Seine-Promenaden gehörten, und müssten daher geschützt werden. Diesmal übersteht das Gesetz alle juristischen Angriffe, die nur 3,3 Kilometer lange, aber emblematische Straße ist seither für Autos gesperrt. Auch heute werden ihre Pläne von der Opposition bekämpft: Als sie kürzlich ankündigte, künftig einen Fahrstreifen, der Paris kreisförmig umrundenden Schnellstraße, der »Périphérique«, für Busse und Fahrgemeinschaften zu reservieren, kündigte die konservative Regionalpräsidentin Valérie Pécresse umgehend an, juristisch dagegen vorgehen zu wollen.

In diesem Konflikt zwischen Stadt und Region liegt auch Hidalgos Problem: Im Zentrum von Paris – wie inzwischen in den meisten europäischen Großstädten – leben Fans für ihren grünen Umbau, aber im Umland sinken ihre Werte. Als »Chefin aus Paris« gilt sie Landwirtinnen, Verkäufern und Pflegern in den Provinzen, wie alles außerhalb der Hauptstadt verächtlich genannt wird, als abgehobene Frau. Sie könne sich nicht vorstellen, wie schwer es für sie alle sei, mit dem Landbus zur Arbeit zu gelangen, warf ihr eine Vorstädterin vor. Für diejenigen also, die 2019 als Gelbwesten die Seine-Brücken und Einkaufsstraßen von Paris blockierten und zu Hunderttausenden gegen eine Elite demonstrierten – und deren Wut entbrannte, weil der Liter Diesel drei Cent teurer wurde.

Bislang fehlt ein Ausgleich für die Ärmsten wie günstige Tickets für den Nahverkehr oder bezahlbarer Wohnraum

Natürlich wollten die Aufständigen viel mehr als günstigen Sprit, sie wollten mehr Mitsprache, faire Löhne und eine Vermögenssteuer, aber das emotionale Symbol war die Tankstelle. Im aktuellen Wahlkampf verkauft sich Hidalgo deshalb wieder mehr als Klassenkämpferin denn als Rad-Aktivistin. »Das ist sicherlich ein Unterschied von mir zu den Grünen: Ich finde, wir können nicht von den Ärmsten verlangen, zu viel für den ökologischen Wandel zu bezahlen.« Ein Satz, den sicherlich niemand bestreiten würde, am allerwenigsten die Grünen, aber tatsächlich fehlt in Hidalgos Paris bislang der Ausgleich für die Ärmsten, etwa günstige Tickets für den Nahverkehr und vor allem bezahlbarer Wohnraum für die Arbeiter und Arbeiterinnen, die oft weit ins Umland ziehen müssen und dann zu den Transitfahrenden werden, die das Zentrum nicht länger belästigen sollen.

Aber zuhause in Paris hat Hidalgo auch dieses Mal wieder eine Erzählung gefunden, mit der sie ihre Politik durchsetzen will. Um den Transitverkehr zu stoppen, führt sie nun nicht mehr nur die Gesundheit an, sondern nichts weniger als den »Frieden«. Vom Concorde-Platz im Westen von Paris bis zur Bastille im Osten, von Saint Germain bis nach Montparnasse soll sich die »befriedete Zone« strecken, in der sich ab 2022 vor allem Fußgängerinnen, Radfahrende und Buspassagiere wohlfühlen sollen. Und dann sollen auch, so steht es in ihrem Programm, Wohlhabende eine Klima-Vermögenssteuer bezahlen, weil sie auch die größten CO2-Verursacher sind.

Das wiederum könnte auch den Gelbwesten gefallen.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.

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