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Abgeordnete entlasten Gewissen auf dem Rücken junger Soldaten

■ betr.: „Europa hat nicht gelernt“, taz vom 15./16. 7. 95

Von den Befürwortern eines militärischen Eingreifens, wird argumentiert, daß sie das dortige Elend nicht mehr ertragen können und wir bei den Verbrechen nicht einfach zusehen dürfen.

Wir können aber sehr wohl dabei zusehen, wenn unsere reichen Länder die Erde ausplündern und zerstören und wir Nutznießer einer Weltordnung sind, bei der jeden Tag – auch heute – 100.000 Menschen qualvoll verhungern. Die größten Leichenberger in der Geschichte der Menschheit können wir sehr wohl ertragen.

Oder vielleicht doch nicht? Wie hilfreich, daß wir da die Verbrechen der anderen bekämpfen können. Ludwig Baumann, Wehrmachtsdeserteur und Träger des Aachener Friedenspreises 1995

Beim Lesen dieser Erklärung kommt mir das kalte Grausen. Obwohl sie historische Erfahrungen beschwört, kommt in ihr eine Ahnungslosigkeit über geschichtliche Zusammenhänge zum Ausdruck, ja schlimmer noch, sie weckt Assoziationen mit den typisch deutschen ideologischen Grundmustern, die die erste Hälfte dieses Jahrhunderts verseucht haben. An zwei Formulierungen wird das besonders deutlich:

1. „Wir sind aufgewachsen in der Überzeugung, nie wieder zulassen zu dürfen, daß sich Ähnliches wiederholt.“ Diese Aussage klingt wunderbar und ist doch – nüchtern betrachtet – Ausdruck von Größenwahn. Ein paar deutsche PolitikerInnen erheben Anspruch auf die Verantwortung für alle blutigen Konflikte auf der Welt. Und sie kennen auch das Heilmittel: „militärischer Schutz“. Ich bin froh, daß wir uns endlich mit unseren Nachbarn einigermaßen arrangiert haben und dadurch dem Militär die Legitimation entzogen haben. Wieso muß Deutschland, das endlich halbwegs zivilisiert ist (vgl. die KDV-Zahlen), jetzt wieder den starken Mann markieren? Die komplette Ignoranz gegenüber den immanent militärischen Argumenten angesichts der topographischen Situation in Bosnien stört anscheinend sowieso niemanden mehr. Auf PolitikerInnen, die etwas versprechen, was niemand einhalten kann, kann ich verzichten.

2. „[...] daß wir als Deutsche bereit sind, ein Risiko für die Rettung der Menschen einzugehen.“ Dieser Satz muß doch bei jedem halbwegs gebildeten Menschen unseligste Assoziatiionen an Kaiser Wilhelm („Ich kenne nur noch Deutsche.“) wecken. Das Risiko würden nicht „die Deutschen“ eingehen, sondern ein paar tausend junge Soldaten, auf die per Bundestagsbeschluß die Entlastung des Gewissens der Abgeordneten delegiert wird. Mir wäre es entschieden lieber, der Bundestag würde seine Verantwortung wahrnehmen, indem er sich mit den strukturellen Ursachen blutiger Konflikte befaßt. Dazu gehören Themen wie Welthandel, Schulden, Waffenexporte, u. ä. Aber die Damen und Herren Duve, Beck u. a. lassen anscheinend lieber ballern. Thomas Groß, Heidelberg

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