AUSGESPROCHEN ALTBACKEN: FISCHERS REFLEXIONEN ÜBERS NICHTWÄHLEN : Einmischung geht auch anders
Joschka Fischer war früher „bewusster Nichtwähler“. Inzwischen findet er das falsch. Hat er im Fernsehen gesagt. Und gleich hinzugefügt, er habe halt in einem „radikalen Jahrzehnt“ gelebt. Jetzt ist also schon Nichtwählen radikal? Offenbar ist das Etikett der Radikalität immer billiger zu haben. Fischer behauptet, seit Gründung der Grünen stets für seine eigene Partei zu stimmen. Nun wendet er sich an die „jungen Menschen“: Er könne sie nur auffordern, „wählen zu gehen und sich einzumischen“.
Es ist nicht spektakulär, dass Fischer heute falsch findet, was er früher für richtig hielt. Das gilt für nahezu seine gesamte Vergangenheit. (Man darf auf eine Zukunft gespannt sein, in der er nicht mehr Außenminister ist.) Aber seine Äußerungen erinnern an ein Zitat, das dem damaligen Bundeskanzler Kiesinger zugeschrieben wird. Während der Studentenproteste soll der begütigend gesagt haben, dass junge Menschen doch viele Möglichkeiten hätten, am politischen Leben teilzunehmen. So könnten sie einen Brief an ihren Bundestagsabgeordneten schreiben. Dem Zeitgeist seiner prägenden Jahre scheint also auch Joschka – langfristig – nicht entkommen zu können.
Es gibt einen guten Grund zu wählen: Man kann hoffen, wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Es gibt aber auch einen guten Grund, die Kabine zu meiden: zu glauben, dass hinsichtlich der Regierungsbildung ohnehin keine Alternativen zur Wahl stehen. Und das wenigstens dokumentieren zu wollen. Einflussnahme durch Verweigerung ist in unserem System allerdings nicht vorgesehen.
Für Bundestagswahlen gibt es kein Quorum. Selbst wenn sich nur hundert Leute daran beteiligten: Die Sieger würden noch immer behaupten, sie hätten das Mandat des Volkes. Wer nicht wählt, trifft also eine individuelle Entscheidung, die für das Kollektiv folgenlos bleibt. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, es gebe keine andere Formen der politischen Einmischung als das Kreuzchen in der Wahlkabine. Die gibt es sehr wohl. Und wenn es nur die Mitarbeit bei amnesty ist. BETTINA GAUS