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Archiv-Artikel

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON JENNI ZYLKA Ein Abend wie ein Gebirge

ES GEHT DER TREND RICHTUNG FAMILIE IM DEUTSCHSPRACHIGEN POP

Da standen mindestens zwei Elternteile auf der gleichen Bühne wie ihre erwachsenen Sprösslinge

Beruhigend: Die Krankengymnastin in meinem Haus macht neuerdings Wasserfilterfachberatung und ist außerdem lizensierte Carbonit-Fachhändlerin geworden. Wenn ich bloß wüsste, wozu man Carbonit noch braucht, außer um Han Solo darin einzufrieren, wenn man Jabba the Hutt ist. Aber vielleicht kennt sie sich ja auch mit Kryptonit aus, dann würde ich gleich mal einen Termin machen, im Supermankostüm natürlich.

Meinen vermaledeiten Wasser-, Zucker- und Salzhaushalt kräftigst durcheinandergewirbelt hat jedenfalls mal wieder das aufregende Wochenende. Am Samstag fing es gleich gut an, bei der Party zum 40. Geburtstag einer junggebliebenen Freundin (die ihre Juvenilität dadurch zu unterstreichen versuchte, dass sie statt rentnerhafter Salzstangen pickelverursachende Brausepulver-Esspapier-UFOs auf den Tischen verteilte) trank ich nur Bier. Also quasi keinen Alkohol, um mit Dean Martin zu sprechen, und konnte darum noch meinen Speck schütteln, wie es der momentan etwas penetrant präsente Peter Fox nicht müde wird zu predigen, als die anderen alle schon längst wie betrunkene Schlachtschiffe in den Sesseln geankert hatten.

Am Sonntagabend traf ich dann einen Bekannten wieder, der den Teint eines iranischen Fußballers hat (denen man beim Spiel live dabei zugucken kann, wie die Stoppeln sich langsam aus der anfangs noch glattrasierten Gesichtshaut schieben) und der wegen des ebenfalls mit vielen 40. Geburtstagen gespickten Partymarathons schon aussah wie ein Mullah. Das passte aber ganz gut, um den Alters- und Gesichtshaardurchschnitt der „Britta und ihre Projekte“-Sause im Prater zu heben, bei der angenehm auffiel, dass der Trend in der deutschsprachigen Popmusik im Berlin-Brandenburger Raum offensichtlich in Richtung „Familie“ geht: Neben mehreren bandeigenen Pärchenstrukturen standen mindestens zwei Elternteile auf der gleichen Bühne wie ihre erwachsenen Sprösslinge. Die eine Tochter (des Schlagzeugers der Jens-Friebe-Band) trat mit Monstersong auf und groovte dabei so sehr auf ihrem Hocker, dass der Ja,-Panik-Drummer ein wenig später beim letzten Snare-Schlag elegant vom gleichen, vermutlich locker gewippten Stuhl fiel und sich fast ein paar seiner zarten Knochen brach. Die andere Tochter (von Christiane Rösinger, die mit ihrer Mutter auftrat) spielte traurige Klaviernoten, während Rösinger traurige Textzeilen wie „Ich hab Zeichen gedeutet / und doch ignoriert / hab Trick 17, 18 und 19 ausprobiert / Es geht sich nicht aus / Es wird nicht reichen / Damit kann man / keinen Stein erweichen“ sang. Danach hoben beide wieder lachend ihre Bierflaschen, vielleicht ist also doch nicht alles Trübsal im Hause R.

Ja, Panik und mindestens zwei weitere GitaristInnen verzerrten sogar ihre Gitarren, was dem Rockpotenzial des Abends ganz schön auf die Sprünge half. Außerdem noch prima und innovativ: Eine der Backgroundsängerinnen bei „Wagner & Pohl“ hatte eine schicke Brille auf! Die erste bebrillte Backgroundsängerin der Welt! Vielleicht hatte die Brille damit zu tun, dass die „Wagner & Pohlettes“ einen charmanten chinesischen Refrain, der ungefähr wie „Iil Eee Üüüü“ klang, vom Blatt ablesen mussten.

Am Ende des vollgestopften und ereignisreichen Abends holte Rösinger nochmal die 10.000 verwandten, verschwippschwägerten, verfeindeten und verliebten Mitglieder des genealogischen Britta-Stammbaums auf die Bühne, und alle grölten zusammen in drei Mikrofone wie ein betrunkener Abiball. „Ein Abend wie ein Gebirge, es gab Täler, aber auch Berge“, murmelte der Mullah später draußen in seinen frisch gewachsenen Bart, und dem kann man sich nur anschließen.

JENNI ZYLKA