AUF DEM LAND VERSCHWENDET MAN NICHTS UND AUF DEM LAND IST NIE JEMAND ENTTÄUSCHT. ALLE SIND GLÜCKLICH, AUCH IM UNGLÜCK : Zu grob, zu fordernd. Ich mag das nicht
VON ULI HANNEMANN
Bei meiner Rückkehr in die Stadt bin ich arglos geworden. Auf dem Land war ich es gewohnt, den Menschen zu vertrauen. Wenn man nur alle Tage eine Menschenseele sieht, dann grüßt man den Fremden freundlich, ja herzlich. Auch Berührungen sind ganz normal, überall am ganzen Körper, dazu nur scheinbar sinnloses Geschwätz. Nach dieser Zeit der tiefen Einsamkeit, die das Landleben meist bedeutet, schreit die Haut nach Kontakt, das Ohr nach Stimmen. Lange Zeit war es so still.
Die Menschen in der Stadt nutzen das nur aus. Wie konnte ich das so schnell vergessen? Ich hätte sie nicht einfach von der Straße mitnehmen dürfen, hätte auch nicht die Wohnungstür die ganze Zeit offen lassen sollen, wie ich es inzwischen vom Land her gewohnt bin. Wildfremde schreien in einem fort auf mich ein, und es sind keine guten Menschen. Nicht wie auf dem Land. Das merke ich auch an der Art ihrer Berührungen, die mir schnell zu viel wird. Zu grob, zu fordernd, zu viele Schläge auch. Ich mag das nicht.
Und ebenfalls nicht, dass sie mir Sachen wegnehmen, ohne mir selber etwas mitgebracht zu haben. Entweder verstehen sie das Konzept nicht, oder es funktioniert nicht in der Stadt. Auf dem Land ist es selbstverständlich, dass man bei jeder der seltenen Begegnungen miteinander teilt, was man gesammelt hat: Der eine gibt Beeren oder Pilze, der andere vielleicht einen Strick aus Naturfasern, um die Hütte zu befestigen. Das ist egal, es geschieht stets einvernehmlich und gleicht sich wunderbarerweise immer aus. Oft entsteht aus solchen formlosen Zusammenkünften ein kleines spontanes Fest. Das Geteilte wird gemeinsam getrunken und verschmaust, die Berührungen werden intensiver, es wird noch mehr gesprochen. Schon am nächsten Tag kann man auf Monate hinaus wieder allein sein.
Wie ernüchtert bin ich, dass diese zehn, zwölf Menschen (das sind längst mehr, als ich auf einmal noch ertragen kann!) einfach alles aus meinem Kühlschrank zerren, die Flaschen oder Verpackungen (die es in der Stadt ja gibt; das finde ich ausnahmsweise auch ganz praktisch) öffnen, den Inhalt oft kaum zur Hälfte konsumieren und den Rest einfach an die Wand, auf den Boden oder aus dem Fenster schmieren, schütten oder werfen. Auf dem Land verschwendet man nichts, die einzige reichhaltige Verschwenderin dort ist die Natur selbst. Ihr hat man zu dienen.
Die Menschen in der Stadt wirken maßlos auf mich. Als mein Kühlschrank leer ist, schreien sie mich an, wo mehr ist. Ich gebe ihnen mein Geld, da ich ja zu teilen gewohnt bin, doch ich bekomme wieder nur Schläge zurück. Während einige der Eindringlinge (mittlerweile bin ich fast versucht, sie so zu nennen) meine veraltete Unterhaltungselektronik die Treppen heruntertragen, drängen von dort bereits nachrückende Massen entgegen. In meiner Wohnung angekommen, sind sie wütend und enttäuscht. Aber ich habe doch nichts mehr.
Auf dem Land ist nie jemand enttäuscht. Alle sind glücklich, auch im Unglück. Die Jahreszeiten werden hingenommen, wie sie eben ausfallen. Der Regen, der Schnee, die Sonne. Nimmt der Herrgott ein Leben, so schenkt er gewiss ein anderes. Das Laute und Rastlose ist mir dort fremd gewesen. Oft sitzt man stundenlang am Bach und lauscht dem lieblichen Gesang des seltenen Rautenschnäppers.
Hier in der Stadt gibt es nur Tatütata und Mordsgeschrei. Was für ein unerträglicher Lärm! Kein Vogel wagt noch einen Piep. Der Mensch ist dem Menschen Wolf. Es sind jetzt wohl an die zweihundert Leute in meiner Stube. Wo denn der Makler sei: die Frage höre ich immer öfter. Was für ein Makler? Auf dem Land ist der einzige Makler, den es gibt, der Wald. Dorthin sehne ich mich jetzt zurück.