ARNO FRANK über GESCHÖPFE : Die neuen Leiden des jungen W.
Ob sie nun an Stränden stranden, London besuchen oder vor Botschaften verwesen: Wale sind eine Plage
Um ihr berüchtigtes Sommerloch mit Themen zu füllen, bieten die Medien alljährlich einen ganzen Streichelzoo voller Kleinvieh auf. Dann gibt es plötzlich nichts Wichtigeres als das entflohene Känguru in den Weiten der brandenburgischen Steppe („Bauern in Sorge: Kommt Hoppel durch?“), tückische Alligatoren in Badeweihern („Badegäste in Angst: Wann beißt die Bestie zu?“) oder randalierende Wildschweine am Alexanderplatz („Bürger in Lebensgefahr: Nächtlicher Überfall in der City“).
Wenn man nun aber von einem Winterloch noch nie etwas gehört hat, dann womöglich deshalb, weil ein einziger Wal vollkommen hinreicht, es ein für alle Mal zu füllen. Warum? Weil sich jede denkbare naturromantische Sehnsucht mühelos auf seinen massigen Leib projizieren lässt. Aber auch deshalb, weil seine gemütliche Behäbigkeit, seine beschränkte Mimik und seine starre Gutmütigkeit den Wal zum Ottfried Fischer der Meere machen – ein bisschen unheimlich, aber trotzdem sympathisch. Wir wünschen ihm alles Gute.
Zwei Wale auf einmal sind schon eine Walplage. Das hat sich auch in Meeressäugerkreisen herumgesprochen: Es ist nicht mehr damit getan, einfach nur die Küsten auf und ab zu paddeln und manchmal malerisch die Fluke aus dem Wasser zu strecken. Das Publikum ist anspruchsvoller geworden.
Wenn ein engagierter Blau-, Beluga-, Finn-, Schwert-, Pott- oder Sonstwaswal wirklich in die Schlagzeilen will, dann muss er sich schon etwas Außerordentliches einfallen lassen. Er muss den Bedürfnissen der Mediengesellschaft flexibel, leistungsorientiert und eigenverantwortlich begegnen. Die Botschaft ist offenbar angekommen: Sind in den flachen Gewässern vor Rügen seit 1335 gerade mal fünf Wale gestrandet, haben in den letzten beiden Jahren gleich zwei Tiere diese Herausforderung angenommen.
Immer mehr Wale sind bereit, ihre Karriere selbst in die Hand zu nehmen – auch wenn in manchen Branchen die Aufstiegschancen miserabel sind. In der Literatur kommt kein Wal an „Moby Dick“ vorbei, der auch an der Seite von Gregory Peck eine unvergessliche Performance als Bad Guy ablieferte. Der betörende „Gesang der Wale“? Wurde von führenden Esoterikern als Unterwasserversion gregorianischer Choräle empfohlen, von Realisten als „Brian Eno für Arme“ belächelt, und schafft es heute kaum noch ins Radio.
Seitdem als Künstler oder Bösewicht kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist, kaprizieren sich die meisten Wale ganz auf die Opferrolle. Zuletzt war es ein Entenwal, der vollkommen grundlos die Themse hinauf bis nach London geschwommen ist, wie der Berg zum Propheten, nur um dort zu verenden. Doch das Risiko hat sich gelohnt: Seelchen Wickert bangte, als wäre das Tier seinem heimischen Aquarium entwischt, und sogar Kühlschrank Slomka entwischte ein knappes „Schade“.
Übertroffen wurde diese Leistung nur noch von der Pioniertat eines Finnwals, der es dank seiner Beharrlichkeit (und eines Greenpeace-Sattelschleppers) bis auf den Rasen vor der japanischen Botschaft in Berlin schaffte! Seit dem tragischen Tod von Hannelore Kohl dürfte keinem verwesenden Fleischberg voller explosiver Gase mehr so viel Mitgefühl zuteil geworden sein.
Aber nicht alle Wale wollen als mahnender Kadaver enden. Für sie gilt weiterhin: Nur wer es schafft, zu rechten Zeit am richtigen Ort im Fadenkreuz einer norwegischen oder japanischen Harpune aufzutauchen, kann mit der professionellen Hilfe der beschlauchbooteten PR-Spezialisten rechnen.
Zur Ausnüchterung sei ein Walbesuch in freier Wildbahn empfohlen. Drei Stunden tuckerte unser Boot hinaus auf den Atlantik vor Massachusetts, randvoll mit hysterischen Fans und ihren Digitalkameras, als wären wir unterwegs zu einem Konzert von Tokio Hotel. Drei Sekunden währte dann der Blick auf einen schwarzen Rücken mit Muscheln drauf, Zugaben gab’s keine – und schon tuckerten wir wieder drei Stunden zurück. Falscher „Ehrfurcht vor der Schöpfung“ begegne ich seitdem mit einen Löffel Lebertran. Hilft garantiert.
Fragen zu Wal-Mart? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN