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Archiv-Artikel

ARNO FRANK über GESCHÖPFE Der Ruf des Cthulhu

Forscher wollen Chimären züchten! Den Mensch mit der Kuh kreuzen! Tolle Idee? Kommt ganz auf die Kuh an …

Als klugscheißende Wirrköpfe waren die „alten“ Griechen ja wirklich unschlagbar. Da zimmerte sich ein gewisser Leukipp wider jede Vernunft ein Weltbild zusammen, bei dem alles, was ist, aus Verklumpungen wild durcheinanderpurzelnder Teilchen entstanden ist, die so klitzeklein sein sollen, dass sie „nicht teilbar“ (á tomos) sind – und schon 2.500 Jahre später gibt die moderne Physik ihm weitgehend recht und läutet zähneknirschend das „Atomzeitalter“ ein. So kann’s gehen.

Und so geht’s derzeit auch der Chimäre. Homer beschreibt sie in der „Ilias“ noch als feuerspeiendes Mischwesen mit drei Köpfen: dem eines Löwen, dem einer Ziege und, am Schwanz, dem einer Schlange. Fast 3.000 Jahre Populärkultur ließen die Furcht erregende Chimäre zur lächerlichen „South Park“-Figur „Scuzzle Butt“ degenerieren, die auf einem Berggipfel Weidenkörbe flechtet und zwei Beine hat; ein Bein ist ganz normal, das andere ist „Dallas“-Schauspieler Patrick Duffy. Eine solch würdelose Kreatur würden nicht einmal PETA-Aktivisten freiwillig streicheln oder aus einem Versuchslabor befreien wollen.

Höchste Zeit also für die Wissenschaft, sich mal ganz ernsthaft der Chimäre anzunehmen. Weshalb sonst sollten britische Forscher am Dienstag ihre zuständige Behörde um die Erlaubnis gebeten haben, Genmaterial aus menschlichen embryonalen Stammzellen in die Eizellen von Kühen einpflanzen zu dürfen?

Formal wären die daraus erwachsenden Embryonen weder homerische noch sonst wie metaphorische, sondern echte Chimären – Mischwesen aus Mensch und Kuh. Gegner finden solche Pläne „abscheulich“, weil damit „der Unterschied zwischen Tieren und menschlichen Wesen ausgehebelt“ werde.

Ungeachtet der zahlreichen Durchbrüche, die auf diesem heiklen Gebiet bisher schon von Sonya Kraus, Tita von Hardenberg oder Eva Herman erzielt werden konnten – sollte der Unterschied nicht besser unausgehebelt bleiben? Jein.

Zu dieser leicht schwammigen Überzeugung gelangte ich durch ein interessantes Erlebnis in den österreichischen Alpen. Normalerweise verlebe ich dort sommers gerne ein paar glückliche Wochen in der Almhütte eines befreundeten Senners. Normalerweise. Diesmal aber konnte ich in meiner ersten Nacht in der zugigen Kammer keinen Schlaf finden. In ungewohnter Umgebung achtet man ja auf jedes Geräusch.

Was ich dann aber gegen drei Uhr nachts zu hören bekam, war nicht von dieser Welt. Es kam von draußen und begann als tiefes, dumpfes, leidendes und irgendwie feuchtes Grollen, das bald in ein eindeutig böses Blubbern überging, gefolgt von einem bedrohlich schnappenden Husten. Welcher Kehlkopf könnte ein so kolossales Keuchen hervorbringen? Ein Blauwal mit Bronchitis? War das der „Ruf des Cthulhu“, wie ihn H. P. Lovecraft beschrieben hat? Der Kopf des Cthulhu, er gleicht dem eines Tintenfischs, sein Gesicht ist ein Gewirr aus schleimigen Tentakeln und unzählbaren Mäulern, auf dem Rücken flirrt libellengleich ein Flügelpaar, denn „das ist nicht tot, was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt“.

Nein, wirklich, so ausgiebig habe ich mir selten in die Hose gemacht – nur um beim Frühstück vom vergnügten Senner zu erfahren, dass das, was mich nachts fast um den Verstand gebracht hatte, keineswegs Cthulhu war. Sondern nur Karin, die Kuh. Ich erfuhr, dass Karin in der Hierarchie ihrer Herde ganz unten steht. Ganz oben steht immer ein Alpha-Tier, ganz unten die Omega-Kuh. Weil sie von den anderen Kühen nichts als Tritte und Bisse zu erwarten hat, hält sie sich ihre Schwestern nachts sogar im Halbschlaf mit präventiven Drohgeräuschen vom Leib, die wahrscheinlich älter sind als ihre von Menschen über die Jahrtausende zurechtgezüchtete Rasse. Urgeräusche eben.

Es wäre also reizend, wenn die Forscher beim fröhlichen Aushebeln kreatürlicher Grenzen darauf achten könnten, menschliches Erbgut nicht ausgerechnet in die Eizelle eines Omega-Tiers einzupflanzen. Dem Menschen, der Kuh und unser aller Nerven zuliebe.

Fragen zur Chimäre? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über TRATSCH