AN DER ZYPERNFRAGE ENTSCHEIDET SICH DIE EU-MITGLIEDSCHAFT DER TÜRKEI : Fortschrittsbericht spielt keine Rolle
Der gestern von der EU-Kommission präsentierte Fortschrittsbericht 2003 ist, anders als für die zehn Beitrittskandidaten, die im kommenden Mai Vollmitglieder werden, für die Türkei der Auftakt zu der entscheidenden Runde im Kampf um die Annäherung an die europäische Union.
Ende 2004 wollen die Staats- und Regierungschefs der dann 25 Mitglieder zählenden EU entscheiden, ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen begonnen werden. Dies ist für Ankara das bestimmende Datum des gesamten Regierungshandelns, und der Fortschrittsbericht 2004 wird die Grundlage für die Entscheidung der Regierungschefs sein. Entsprechend nervös wird in der Türkei auf jede Verlautbarung aus Brüssel reagiert.
Im Kern enthält der diesjährige Bericht keine Überraschung. Brüssel lobt die legislativen Reformen des letzten Jahres als bemerkenswert, weist aber mit Nachdruck darauf hin, dass aus den Gesetzesvorlagen nun auch gesellschaftliche Realität werden muss. Drei Punkte sind dabei entscheidend: Konsequente Verfolgung folternder Polizisten, Durchsetzung der kulturellen Rechte der kurdischen und christlichen Minderheiten und das Primat der Politik gegenüber dem Militär. Die türkische Regierung weiß natürlich, dass die Umsetzung ihrer Reformen bislang ungenügend ist. Sie wird versuchen, das in den verbleibenden zehn Monaten zu ändern. Bereits jetzt ist aber absehbar, dass die entscheidende Frage Ende nächsten Jahres sein wird: Ist das Glas halb voll – oder halb leer? Darauf gibt es letztlich keine objektive, sondern nur eine politische Antwort. Deshalb zeichnet sich auch schon jetzt ab, dass die Antwort der EU sich wahrscheinlich gar nicht an ihren eigenen Vorgaben entscheidet, sondern an der Zypernfrage. Ob es der AKP-Regierung also gelingt, auf Zypern zu einer Lösung auf der Grundlage des Annan-Plans beizutragen. Das wiederum hängt davon ab, wie die Wahlen in Nordzypern Mitte Dezember ausgehen. Verliert Denktasch, stehen die Chancen gut, verliert die Opposition, sieht der türkische Ministerpräsident Erdogan alt aus. Letztlich hängt die Zukunft der Türkei an 180.000 türkischen Zyprioten. In jedem Istanbuler Stadtteil leben mehr Menschen. JÜRGEN GOTTSCHLICH